|
Wie soll man Bach spielen?
Das Brechen mit Traditionen ist die einzig authentische Tradition in der Kunst, für die sich der Einsatz lohnt
(Bach I)
von
Herbert Henck
Eine der ersten Bemerkungen, die ich als Kind über Bachs Klaviermusik hörte,
war ein Verbot. Es besagte, man dürfe bei der Ausführung seiner Musik kein Pedal verwenden, denn dieses sei zu Lebzeiten des Komponisten noch nicht erfunden gewesen, und somit sei sein Gebrauch nicht zu
rechtfertigen. Ich war verblüfft. Natürlich hatte ich keine Antwort auf eine derart plausible Feststellung und versuchte lange, im Glauben, Bach jetzt »richtig« zu spielen, auf das Pedal zu verzichten und alle
sich aus Sprüngen, größeren Intervallen oder unbequemen Stimmführungen ergebenden Schwierigkeiten wohl oder übel durch geschickte Fingersätze zu meistern. Spaß machte es nicht. Mit Pedal klang es schöner, und so
nahm ich es heimlich.
Erst viel später erfuhr ich, dass Bach eigentlich auch kein Instrument besessen und gespielt hatte, das sich mit dem heutigen Klavier und Flügel vergleichen ließ, und dass er
mit »Clavier« nichts anderes als ein Tasteninstrument, also auch ein Cembalo oder eine Orgel bezeichnet hatte. Doch es kam noch besser, und wiederum dauerte es Jahre, bevor sich mein Kenntnisstand erweiterte.
Denn ich hatte in meiner Jugend noch keinen Zugang zu dem, was sich in Form musikalischer Fachliteratur mit Fragen dieser Art befasste, und so war ich auf die oft etwas zufälligen, gelegentlich widersprüchlichen
Meinungen meiner Lehrer angewiesen oder machte mir meinen Reim auf das, was ich von Kommilitonen hörte oder sonst wo aufschnappte.
Ich spielte nun schon eine ganze Reihe von Werken Bachs, mit Vorliebe Präludien und Fugen aus beiden Teilen des »Wohltemperierten Klaviers«, wobei ich mich über das Pedalverbot
inzwischen eigenmächtig hinweggesetzt hatte, da es musikalisch mehr hinderte als half. Hätte man mich seinerzeit aber gefragt, was denn nun ein »wohltemperiertes« Klavier eigentlich sei, hätte
ich mit der größten Selbstverständlichkeit behauptet, dass die Wohltemperiertheit eben unser modernes, die Oktave in zwölf exakt gleich große Intervalle unterteilendes Stimmungssystem darstelle, dessen Vorzüge beim
Wechsel in die entlegensten Tonarten der Pionier Bach als Erster erkannt und zyklisch thematisiert habe.
Erst nachdem ich gelernt hatte, Bibliotheken so zu bedienen, dass sie mich bedienten und mir das lieferten, was es an Vorwissen zu bestimmten Fragen gab, erkannte ich die Beschränktheit
und Ungenauigkeit meiner Auffassung. Bach hatte, so sah es die Forschung, durchaus nicht die heute übliche gleich schwebende Temperierung verwendet, sondern eine andere, die ihrerseits auch nur eine von
mehreren damals bekannten Möglichkeiten war, die freie Modulation zwischen allen Tonarten zu erlauben. Da Bach sein Cembalo aber stets eigenhändig stimmte und sich hierbei nur auf das eigene Gehör verließ,
lässt sich heute nicht mehr verbindlich sagen, welche der anstehenden Möglichkeiten er nutzte.
Dass die Vergangenheit sich stets komplexer als gedacht und die Quellen stets ungenauer als gewünscht erwiesen, diese Erfahrung wiederholte sich fast bei jedem Detail, das ich genauer
unter die Lupe nahm, und es hätte Jahre des Studiums, vielleicht des ganzen Lebens bedurft, allein die Verzierungen Bachs »in alter Manier« auszuführen, mich in die heiklen Tempofragen oder in Fragen der
Lautstärkeabstufung einzuarbeiten oder zu klären, wie viel Hertz der Kammerton seinerzeit hatte. Über all das und mehr gab es gewaltige Mengen von Literatur.
Je mehr ich aber las, umso mehr Alternativen eröffneten sich und umso undurchsichtiger wurden die Probleme, die kaum je einer Lösung zustrebten und in die erhoffte Eindeutigkeit
mündeten, sondern deren Tücke eher eine stetige Verzweigung war. Jede Frage schuf zwei neue. Statt mich Bach zu nähern, entfernte ich mich immer weiter von der klingenden Musik, und ich fühlte mich immer unwohler,
ja schuldiger, wenn ich bedachte, dass irgendein Autor, vielleicht gar eine Kapazität, anderer Meinung war als ich, und gerade von dem strikt abriet, was mir gefiel.
Zwar wollte ich nicht ganz so pragmatisch vorgehen wie jener Dirigent, mit dem ich mich einst über das Vibrato bei Bach unterhielt und der den Streit der Gelehrten kurzerhand mit den
entwaffnenden Fragen entschied: „Wissen Sie, wie viele Kinder Bach hatte …? – Und der Mann soll kein Vibrato gekannt haben …?“, doch schien mir die einzig mögliche Lösung aus dem Dilemma das offene Eingeständnis meiner Unvollkommenheit und eine Art des bewussten Verstoßes, der gebildeten Ignoranz, des verantworteten Subjektivismus zu sein. Ich nahm, so weit es meine Zeit und Kräfte erlaubten, zwar Kenntnis von dem, was die Wissenschaft entdeckt und zusammengetragen hatte, bezog dieses jedoch nicht notwendig in meine Interpretation ein.
Es konnte nicht angehen, aus lauter Rücksicht auf Sekundärquellen die Lust am Musizieren und die Freude an der klingenden Gestaltung zu verlieren. Lieber wollte ich irren als mir den
Schneid abkaufen lassen, lieber getadelt sein für eine fehlerhafte Auffassung als den fleißigen Duckmäuser abgeben. Denn so viel war klar: Historische Treue und wissenschaftliche Belegbarkeit führten nicht
zwangsläufig zu bewegenden, lebendigen Interpretationen. Es waren immer noch die Menschen, die sich über die Musik den Hörern mitteilten, die Spieler selbst als denkende, empfindende, beseelte Wesen; und
ihr musikalisches Niveau, ihr Einsatz, ihre Energie, ihre Gestaltungskraft, ihr technisches Vermögen, ihre Konzentration, Spontaneität und Phantasie verschmolzen unauflöslich mit der Komposition. Immer hätte
ich einer ganz aus der Intuition schöpfenden und so erst künstlerisch anspruchsvollen Interpretation den Vorzug gegeben vor einer zwar verdienstvollen, im Grunde aber anrüchigen, nach Mottenkugeln duftenden
Korrektheit, die nichts wagte und daher auch nichts gewann.
Das Brechen mit Traditionen und ihre Anpassung an die zeitgemäßen, individuellen Bedürfnisse erscheint mir heute jedenfalls als die einzig authentische Tradition in der Kunst, für
die sich der Einsatz lohnt. Nie konnte ich mir vorstellen, dass ein begabter, schöpferischer Mensch, wie Bach es war, den Wunsch hätte haben können, die Spieler seiner Musik auf die Replikation seiner selbst und
immergleiche Wiedergabe festzulegen. Im Glauben an sein Genie darf man unterstellen, dass er eine andere, präzisere Form der Aufzeichnung für seine Kompositionen gefunden hätte, wenn er die Freiheiten der Spieler
stärker hätte einschränken wollen.
Dies bedeutet nicht notwendig, mit jedem erneuten Spiel eines Stückes etwas völlig anderes zu machen, obwohl natürlich auch dies möglich ist. Es kann ebenso gut eine sich über Jahre
erstreckende Detailarbeit bedeuten, die für den Außenstehenden kaum mehr wahrnehmbar ist. Allemal heißt es aber, das Notenbild mit den eigenen musikalischen Empfindungen und Regungen in Einklang zu bringen, in
Einklang auch mit dem Instrument, auf dem man spielt, und dem Raum, in dem man sich befindet, mit den Zuhörern, die anwesend sind oder fehlen, und mit allen anderen denkbaren Umständen, durch die eine jede
solchermaßen bewusste und an den Augenblick sich hingebende Wiedergabe Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit und damit Schönheit erhält.
Versucht man indes, Schönheit abzulösen von dem Augenblick, in dem sie entsteht, versucht, sie der Erneuerung zu entziehen und für die Zukunft als etwas unbedingt festzuhalten, das mehr
ist als ein Dokument der Vergangenheit, wird man bald die Erfahrung teilen, von der mir einmal ein Komponist aus seiner Kindheit erzählte. Er hatte sein Taschengeld gespart und endlich genug beisammen, um sich
einen billigen Fotoapparat zu kaufen. Und da er als Erstes das Schönste, das er kannte, aufnehmen wollte, legte er einen Film in den Apparat, ging in den Garten und fotografierte die Sonne.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 169, Samstag, den 29. Juli 2000, Wochenend-Beilage Bilder und Zeiten [zum 250. Todestag Johann
Sebastian Bachs], S. II, Spalte [1]–[6]. Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Erste Eingabe ins Internet: Mittwoch, 13. September 2000
Letzte Änderung: Donnerstag, 14. April 2016
© 2000–2016 by Herbert Henck
|