Sinsheim an der Elsenz  (Teil 2)

 

Sinsheim an der Elsenz

1955–1959

Autobiographische Studien II
 

Teil 2

von

Herbert Henck

 

 

 

                 Teil 1
                 
                 Kapitel 1     Aus dem Leben der Anstalt (I)
                 Kapitel 2     Im Unterschied zu Treysa
                 Kapitel 3     Heimweh, Wurst und Bauernmöbel
                 Kapitel 4     Wohnverhältnisse. Die Familienkutsche
                 
                 Teil 2
                 
                 Kapitel 5     Wohnverhältnisse (Forts.)
                 Kapitel 6     In Park und Garten
                 Kapitel 7     Aus dem Leben der Anstalt (II) Einzelne Pfleglinge
                 Kapitel 8     Erste Schulerfahrungen
                 Kapitel 9     Chemie (Anfang)

 

 

 

Fünftes Kapitel
Wohnverhältnisse (Forts.)

Das obere geräumige Stockwerk, eine echte Beletage, bewohnten wir nach Papa Hefners Auszug und der folgenden Renovierung allein. Eine breite Holztreppe führte zur Wohnung hinauf. Ein über beide Stockwerke reichendes Nordfenster auf dem Treppenabsatz schmückte meine Mutter mit allerlei Blumentöpfen und Pflanzenschalen, die zum Teil auf kleinen stufenförmigen Gestellen postiert waren. Besondere Beachtung fanden stets die sogenannten Weihnachtskakteen, die so unzeitgemäß rot oder orange blühten und dann ein Blickfang besonderer Art waren. An den angrenzenden Wänden hatte man rankende Gewächse in Blumenampeln aufgehängt, und gerahmte Farbdrucke von Heilkräutern und medizinisch wertvollen Obstsorten, bei denen Botanisches, nicht Künstlerisches im Vordergrund stand, stammten vermutlich aus dem Kalender einer pharmazeutischen Firma und gaben den Besuchern des Treppenhauses das Geleit.

Noch vor der Eingangstür zur Wohnung lag ein Gästezimmer, das später eine große Modelleisenbahn aufnahm. Sie gehörte zu jenen Spielsachen, die eigentlich für mich bestimmt waren, an denen mein Vater aber sicherlich mehr Freude hatte als ich. Wochenlang bastelte er hier, während sich meine Tätigkeit hauptsächlich aufs Zuschauen beschränkte. Später wurde mir klar, dass er hier etwas nachholte, was ihm in seiner eigenen Jugend versagt geblieben war, und er mich gewissermaßen nur vorschob, um so seine zu kurz gekommene kindliche Spiellust zu rechtfertigen. Ein andermal vielleicht mehr zu diesem Thema. Innerhalb der Wohnung gab es einen geräumigen, doch etwas dunklen Flur, in dem die bereits beschriebenen Bauernmöbel aufgestellt wurden, eine Küche, die bald auch durch einen ersten Bosch-Kühlschrank glänzte, eine große nach Norden gelegene Speise- und Vorratskammer, ein Badezimmer, ein Schlafzimmer für die Eltern, je ein Zimmer für meine Schwester und mich sowie ein Esszimmer, in dem auch unser Klavier stand und das sich mittels einer Schiebetüre von dem Wohnzimmer, dem größten Raum der Wohnung und des Hauses, abteilen ließ. Außerhalb der Wohnung war die Toilette mit einem Vorraum, in dem es ein Waschbecken gab und in dem mein Vater seine Bierdeckelsammlung, die zum Teil noch aus seiner Studentenzeit rührte, an der Wand befestigte. Aus diesem Vorraum führte eine Tür über eine Treppe zum Dachboden hinauf, in dessen Mitte nochmals ein kleinerer mit Regalen versehener Raum abgeteilt war. Brigitte, eine junge Frau mit sehr dicken Brillengläsern, half meiner Mutter als Dienstmädchen beim Kehren, Staubsaugen, Aufwischen, Bohnern oder Fensterputzen. Sie gehörte zu den Pfleglingen der Anstalt, kam bei der Hausarbeit schnell ins Schwitzen und wirkte insgesamt etwas trübsinnig.

Im unteren Stockwerk war die Verwaltung der Anstalt untergebracht. Hier regierte ein schon etwas kahlköpfiger untersetzter, aber kräftiger Mann mittleren Alters namens Burgel, stets korrekt mit Anzug und Krawatte, unterstützt von einer jüngeren, sehr großen, adrett gekleideten Sekretärin, dem Fräulein Stahl, deren Merkmal ein ausgeprägtes Zapfenkinn war. Beide waren freundlich zu uns Kindern, und Verstimmung gab es nur einmal, als ich, die Gelegenheit noch umherstehender Farbtöpfe nutzend, die Klosettbrille im Parterre mit einem neuen Ölfarbenanstrich versah und so ihren Gebrauch bis auf weiteres einschränkte. Aber der Vorfall war schnell vergessen, denn man unterstellte mir gerechterweise keine unlauteren Absichten und wertete mein Vorgehen nach all dem Tünchen, Kleistern, Lackieren und Pinseln als gutgemeinten Beitrag zur Renovierung des Hauses.

In den Räumen gegenüber der Verwaltung wohnte die Oberschwester der Anstalt gemeinsam mit ihrem schwarzen Pinscher, „Fax“ geheißen, eine ältliche, uns Kindern gegenüber stets eine etwas strenge Miene einnehmende Person. Neben ihrer Wohnung hatte mein Vater sein in Treysa noch zu Kriegszeiten begründetes Medizinisch-diagnostisches Laboratorium in zwei Räumen eingerichtet, von denen der hintere, zum Garten gelegene schwarz bemalte Fensterscheiben bekam und als Dunkelkammer diente. Die Anstalt hatte bislang über kein eigenes Labor verfügt, und so konnte mein Vater dringende Blut-, Urin- oder Stuhluntersuchungen hier selbst vornehmen. Bei unserem nächsten Umzug überließ er dieses Labor der Anstalt zu einem geringen Preis, da er in Mannheim weder Platz noch Verwendung dafür hatte. Eine kleine unbeheizte Kammer neben dem Labor wurde von der Schreinerei mit Regalen ausgestattet und als Obstkammer hergerichtet, in der insbesondere Äpfel bis in das Frühjahr überwintern konnten. Ein weiterer Raum im Parterre, der von der Rückseite des Hauses durch einen zweiten Eingang über einen kleineren Vorraum zu erreichen war, wurde als Aufenthaltsraum für die Schwestern der Anstalt möbliert und erhielt sogar einen Fernsehapparat, was seinerzeit noch keine Selbstverständlichkeit war, großen Eindruck machte und als Zeichen von Fortschrittlichkeit gewertet wurde.

 

 

Sechstes Kapitel
In Park und Garten

Dieses Wohnhaus, das kaum so alt war wie die Anstalt und in späteren Jahren aus mir unbekannten Gründen abgerissen worden sein soll, hatte schon vor seiner Renovierung etwas sehr Bequemes und Großbürgerliches, was sich besonders dadurch steigerte, dass sich ihm nicht nur eine Art von Park, sondern auch ein riesiger Garten anschlossen. Haus, Park und Buschwerk teilten jedoch den eigentlichen Gemüse- und Obstgarten ab, so dass dieser von außen nicht einzusehen war. Im vorderen, parkähnlich gestalteten Abschnitt standen vier oder fünf sehr alte Linden, deren Stämme man kaum zu zweit umarmen konnte und die sich dank ihrer zahlreichen verknorpelten Stellen bestens zum Klettern eigneten. Dieser Park ließ sich durch ein eisernes Tor gegen die Anstalt hin verschließen, doch stand es fast immer offen. Vermutlich war den Pfleglingen das Betreten dieses privaten Bereichs untersagt, denn obwohl es genug Gelegenheit hierzu gegeben hätte, verirrte sich fast nie jemand auf unser Terrain.

Nach Süden grenzte ein niedriger weißer Staketenzaun den Park ab, von dem, abfallend zur Hauptauffahrt der Anstalt, ein großer Hang mit roten Rosen bepflanzt war. Über seine ganze Länge hinweg konnte man, wie eingangs beschrieben, weit ins Land hinaussehen. Nach Westen, fast ganz im Dickicht des Gebüschs verborgen, waren die Reste einer alten Mauer erhalten, auf deren Kamm man einst Glasscherben mit Mörtel befestigt hatte, damit sie nicht überstiegen werde. Vielleicht handelte es sich bei diesem Mauerwerk um das letzte Überbleibsel einer alten Klostereinfriedung, denn vor Zeiten, im achtzehnten Jahrhundert, hatte hier ein Franziskanerkloster gestanden. Auch an diesem Ort zeigte sich die Begabung früherer Bauherren, Klöster an Stellen zu errichten, die sich nicht nur durch verkehrsgünstige Lage, sondern zugleich durch Anmut auszeichneten. Am Vortag seines achtundvierzigsten Geburtstages traf Goethe, dem ich letztere Weisheit verdanke, auf seiner Reise in die Schweiz in dem heitern Landstädtchen Sinsheim ein, und als er das Kloster bei seiner Weiterreise in Richtung Rohrbach und Steinsfurt draußen links liegen sah, erschien es ihm ansehnlich. Bald ward dieser Ansehnlichkeit jedoch ein Ende bereitet, denn nach der Wende zum neunzehnten Jahrhundert gingen die Gebäude durch die Säkularisation in den Besitz einer Brauerei über und dienten nun wohl eher feuchtfröhlicher als frommer Einkehr. Und wieder Jahrzehnte später entstanden hieraus durch Um- und Ausbauten die Vorstufen dessen, was schließlich zu einer Anstalt für Geistesgestörte und andere Pflegebedürftige wurde. Unter Franz Eschle, der kurz nach der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert als Leiter der Anstalt berufen wurde und der zahlreiche medizinische Schriften, darunter ein Buch über die Grundzüge der Psychiatrie veröffentlichte, wurden die Neubauten der Anstalt errichtet, wie sie heute noch zu sehen sind. Königliche Gäste beehrten die Einweihung mit ihrem Besuch.

Nach Norden begrenzte, unterbrochen nur von einem Fußweg, reiches Buschwerk den Park zum Nutzgarten hin, der seinerseits am höher gelegenen Ende mit Zäunen und Hecken schloss. Jenseits erstreckten sich Äcker und Felder, die ebenfalls noch der Anstalt gehörten. Im hinteren Teil des Parks gab es im Schatten hoher Bäume eine kleine Laube, deren weiß gestrichenes Lattenwerk den Blick nach allen Seiten freigab. Um Schutz vor Wind zu bieten und sie insgesamt gefälliger zu machen, hätte man sie freilich mit Wein oder anderen Kletterpflanzen begrünen müssen, und so benutzten wir sie nie. Auch eine von einem Mäuerchen eingefasste Terrasse, die die Gärtnerei nach Rodung mehrerer Büsche in der Mitte des Parks schuf und auf der im Sommer ein weißer Gartentisch und einige Klappstühle standen, kam nur bei wichtigen Anlässen in Gebrauch. Höhepunkt war ein Besuch des Freiburger Psychologen Professor Robert Heiß und seiner Mitarbeiterin Frau Dr. Hiltmann, die mein Vater vermutlich noch von einem Fortbildungskurs in Hephata kannte. Ein eigens in der Anstaltsküche vom Chefkoch vorbereitetes Mittagessen wurde im Familienkreis auf dieser Terrasse eingenommen, und noch viele Jahre später gedachte man der Ehre dieses Besuchs. Professoren, die freilich aus der richtigen Schule stammen und Anhänger der Lehre Ernst Kretschmers sein mussten, verkörperten für meinen Vater eine Art von höheren Wesen, deren Ansehen und honorige Einkünfte sich mit wenig anderem messen ließen, auch wenn er dies vielleicht nicht zugegeben hätte. Sie glichen gutmütigen und immer gut gelaunten Sonnen, um die im Bann ihrer Anziehungskraft stets eine Runde lernbegieriger, bewundernder Studenten und Studentinnen als von ihrem Licht erleuchtete, erwärmte und belebte Monde kreiste. Auf der Bühne ihrer Hörsäle griffen sie mit lockerer Hand in das unerschöpfliche Füllhorn ihres Wissens und verteilten ihre Weisheit mit Witz und Würde generös unter ihr Publikum, während sie, ganz im Dienste ihrer forscherischen Mission aufgehend, nächtens in ihren mit Büchern gespickten Studierstuben in handverlesenem, Nobelpreis-verdächtigem Kreis, Pfeife rauchend und Punsch trinkend, beisammen saßen und an die Kernfragen der Menschheit rührten. So ließ sich leben.

Da mein Vater in seiner gerichtsgutachterlichen Tätigkeit auch in späteren Jahren noch manchmal den sogenannten Farbpyramiden-Test verwendete, über den Heiß Anfang der fünfziger Jahre ein Buch veröffentlicht hatte, nehme ich an, dass man sich nicht zuletzt durch dieses Thema beruflich und persönlich näher gekommen war. Bereits in Treysa hatte mein Vater selbst uns Kinder abwechselnd schöne und hässliche Pyramiden legen lassen, indem kleine, nach Farben sortierte und wie Briefmarken gummierte Quadrate aus Glanzpapier in den Stempelabdruck einer aus Kästchen aufgebauten Pyramide eingeklebt wurden. Die Wahl, Häufigkeit und Anordnung der Farben wurde dann statistisch ausgewertet und sollte auf bestimmte charakterliche Eigenschaften und Veranlagungen des Getesteten schließen lassen. Auch der Rorschach-Test oder später der Hamburg-Wechsler-Intelligenz-Test und Namen wie Zulliger und Bender aus der favorisierten Freiburger Schule waren uns Kindern schon vertraut.

Doch zurück aus Treysa in unseren schönen, gepflegten Sinsheimer Park und Garten. Beide wurden im Wesentlichen von der Anstaltsgärtnerei mitversorgt, wenn meine Mutter durchaus auch eigenen, bescheidenen Ehrgeiz entwickelte und ihre Vorstellungen mit dem Gärtner besprach. Im Allgemeinen ging sie diesem Gärtner aber lieber aus dem Weg, vielleicht weil er jähzornig veranlagt war und in seiner lauten, rechthaberischen Art deutlich zu erkennen gab, dies sei sein angestammtes Revier und er werde sich von einer dreißigjährigen Frau, sei sie auch die Frau des Direktors, nicht ins Handwerk pfuschen lassen. Gleichwohl ging er auf ihre Wünsche natürlich in gebotenem Umfang ein und ließ es nicht zu offenen Auseinandersetzungen kommen, die seine Stellung untergraben hätten. Er verstand indes seinen Beruf, wusste selbst zu pfropfen und zu okulieren und konnte zudem auf eine langjährige Erfahrung im Hinblick auf die zu wählenden Sorten, die Witterungsverhältnisse und die Beschaffenheit der Böden zurückblicken. Er wusste, was hier unter welchen Bedingungen gedieh, und seine Bemühungen fanden Lohn durch reiche Ernten.

Meine Mutter war indes keine Anfängerin und hatte in Treysa unseren kleinen Hausgarten allein bewirtschaftet, hatte Kartoffeln angebaut, Erdbeeren gezogen und ein paar Blumenbeete rings um das Haus angelegt. Manches hatte sie sicher von ihrer Mutter gelernt, die einen großen Garten in der Ascheröder Straße unweit der Oberschule bestellt und aus diesem die in ihrer Obhut befindliche Küche der Bahnhofsgaststätte mit manch Nützlichem und Notwendigem versehen hatte. Jährlich wurden Kartoffeln eingekellert, Erdbeeren, Zwetschgen, Johannisbeeren und Rhabarber zu Marmelade, Mus, Gelee oder Kompott verarbeitet, Fruchtsäfte wurden gepresst und durch Erhitzen haltbar gemacht; überzähliges Obst, zumeist Kirschen, Zwetschgen, Äpfel und Birnen, aber auch Gurken, Zwiebeln, Karotten und Stangenbohnen wurden in Weckgläsern eingekocht und als Vorrat auf einem Regal in der Speisekammer gelagert. Im Keller gor Sauerkraut in einem Holzfass, dem ein befremdlicher Geruch entströmte. Und selbst Honig kam aus eigener Herstellung, denn der Vater meiner Mutter versuchte sich in seinem Garten eine Zeitlang als Imker, wobei das Auslutschen des vor dem Schleudern der Waben abgeschabten Wachses zu den süßesten Erinnerungen meiner Kindheit gehört. Das Kriegsende, von dem ich damals nichts wusste, und die Jahre ständiger Knappheit waren noch zu frisch in Erinnerung, und man hatte den Wert eines jeden Fleckchens Gartens sehr wohl schätzen gelernt. So verwunderte es nicht, immer wieder einmal die Geschichte des selbst hergestellten Holunder-Sektes zu hören, von dem unter dem Druck der Gärung gelegentlich eine Flasche im Keller explodierte und dessen Lagerstatt man sich nur mit äußerster Vorsicht, am besten mit einem größeren Topfdeckel als Schild, nähern durfte.

In dem Sinsheimer Garten wuchs indes eine solche Fülle der verschiedensten Obstbäume und -sträucher, und die Beete hatten solche Ausmaße, dass eine einzelne Person mit ihrer Betreuung überfordert gewesen wäre. Sogar Pfirsiche gab es hier neben den üblichen Äpfeln und Birnen, einen ertragreichen Süßkirschbaum, Sauerkirschen, Zwetschgen, Quitten, eine Himbeer- und Brombeerhecke, rote und schwarze Johannisbeeren und Stachelbeeren. Erdbeeren wuchsen in langen Reihen, darunter auch die kleinen weißen oder roten Monatserdbeeren. Gemüse, Salat und Kräuter gab es die Menge, und ein Kartoffelfeld war fast schon ein kleiner Acker zu nennen. An der Südseite eines Gerätehauses rankte Wein, der aber nur kleine Beeren entwickelte, uns Kindern meist zu sauer war und mit den käuflichen süßeren Trauben nicht mithalten konnte. Naturgerecht war dieser Gartenbau sicherlich nicht, denn es wurde nicht selten gespritzt und sogar mit schwerem chemischen Geschütz gegen das Unkraut auf den Parkwegen angegangen. Wie dies auch heute noch im konservativen Gartenbau häufig anzutreffen ist, waren hohe Erträge und ein geordnetes, gepflegtes Aussehen das Ziel der Bemühungen, und Äußerlichkeiten ersetzten innere Werte.

 

 

Siebentes Kapitel
Aus dem Leben der Anstalt (II). Einzelne Pfleglinge

Der Gärtner war ein gefürchteter Mann, nicht zuletzt seines cholerischen Temperaments, herrischen Auftretens und barschen Tones wegen, mit dem er den Arbeitern, Pfleglingen der Anstalt, seine Anweisungen gab oder auch uns Kinder vom Erklettern der Obstbäume oder Überqueren der Beete abzubringen versuchte. Letzteres sahen wir ein, ersteres weniger. Da er oft in Begleitung von drei oder vier Mann in unserem Garten erschien, um etwas umgraben zu lassen, zu säen oder zu ernten, zu beschneiden, zu hacken oder zu jäten, zu häufeln oder zu lichten, entgingen uns seine weithin hörbaren Kommandos nicht. Einer seiner Arbeiter war ein etwas kleiner, aber recht kräftiger junger Mann mit frischer Gesichtsfarbe, vielleicht Anfang zwanzig, Hermännchen genannt. Er hatte stark abstehende Ohren und kurz geschnittenes, struppiges, ja borstiges Haar und trug fast immer einen blauen Arbeitsanzug und klobige schwarze Schuhe. Hermännchen war geistig etwas zurückgeblieben und begriff manchmal nur langsam, was man von ihm wollte. Da geschah es, ich war in der Nähe und beobachtete die Szene, dass Hermännchen irgend etwas falsch gemacht oder verdorben hatte, und der Gärtner stand in seinen schwarzen Gummistiefeln breitbeinig vor ihm aufgepflanzt und brüllte ihn aus Leibeskräften an. Hermännchen stand völlig verwirrt da, mit hochrotem Kopf, gesenktem Blick, verwirrter Miene und zusammengezogenen Augenbrauen, schien etwas auf dem Boden zu suchen und ließ ohne den geringsten Versuch, sich zu wehren oder sich irgend zu verteidigen, das Gewitter vorüberziehen. Und doch sah ich, wie es in ihm kochte und wühlte und er vergeblich nach Worten der Entgegnung, Erklärung und Rechtfertigung suchte.

Ein anderer in der Gärtnerei arbeitender Pflegling hieß Nufer. Er war von ganz außergewöhnlicher Leibesfülle, und ihn nur dick zu nennen, käme einer Untertreibung gleich. Normalerweise wäre er für jegliche gärtnerische Tätigkeit, bei der man sich bekanntlich oft bücken muss, gänzlich ungeeignet gewesen, doch wurde Nufer vor allem eingesetzt, wenn ein größeres Beet umgegraben, von Unkraut befreit und mit dem Rechen geglättet war. Dann galt es nämlich, zur leichteren Bestellung Gehwege anzulegen, und jetzt war Nufer an der Reihe, dessen Hauptaufgabe darin bestand, entlang einer zwischen zwei Pflöcken gespannten Schnur schrittchenweise mehrmals auf und ab zu gehen. Mehr hatte er nicht zu tun, denn den Rest der Arbeit erledigte sein Gewicht. Vielleicht machte ihm diese Beschäftigung, bei der alle anderen pausierten und ihm zusahen, sogar Spaß, denn er schien immer recht vergnügt und sogar ein wenig stolz dabei.

Mit einem anderen Gartenarbeiter freundete ich mich für kurze Zeit an, dann sah ich ihn plötzlich nicht mehr; vielleicht war er entlassen oder verlegt worden. Er hieß März wie der Monat, war kräftig und gewandt, ja sportlich, vielleicht Ende zwanzig und hatte so schwarzes wie glattes Haar. Ich sah ihm gerne bei seinen Arbeiten zu, die selbständiger waren als die der anderen Arbeiter, und wir unterhielten uns dann immer eine Weile, wobei er mir erklärte, was und wie er es tat. Mein Vater erzählte mir später, dass er unter Epilepsie gelitten habe. Hiervon merkte ich jedoch nichts, und März’ einzige Auffälligkeit bestand für mich darin, stets eine rote Gummizwille um den Kopf zu tragen, vielleicht eine etwas exzentrische Art, sein Haar zu befestigen. Mich beeindruckte das aber sehr, und ich ahmte es eine Zeitlang nach.

Wieder ein anderer Patient, den man häufig auf dem Gelände der Anstalt sah, für den wir aber zunächst keinen eigenen Namen hatten, wirkte auf uns Kinder vom Äußeren her eher langweilig. Er war vielleicht Mitte zwanzig, trug einen ausgebeulten braunen Cordanzug, und sein Kopf war, wie früher bei Sträflingen üblich, fast kahl geschoren. Etwas vornüber gebeugt trottete, ja schlurfte er mit gesenktem Blick voran und sprach Unverständliches vor sich hin. Jedem Gespräch und jeder Annäherung wich er aus, wirkte dabei aber stets sehr vorsichtig und war niemals gereizt oder verärgert, sondern lächelte sogar, während er weiterhin vor sich hin murmelte. Eines Tages, meine Eltern hatten mir einen ledernen Fußball zum Geburtstag geschenkt, spielte ich mit anderen Kindern auf dem Hof vor den Anstaltshäusern. Da flog der Ball unversehens diesem Mann, der uns schon eine Weile zugesehen haben mochte, vor die Füße, und urplötzlich spielte er mit. Wie verwandelt rannte er hinter dem Ball her und entwickelte ein Tempo und Geschick, mit dem wir weder gerechnet hatten noch mithalten konnten. Wir waren so verblüfft wie amüsiert und nannten ihn fortan nur noch den Weltmeister.

Neben der Gärtnerei, deren Tätigkeit sich zu oft nur vor unseren Augen abspielte, gab es noch eine Reihe anderer handwerklicher Betriebe, die unsere Neugierde weckten und die wir, je nachdem wie freundlich man uns begegnete, gerne aufsuchten oder lieber mieden. Freundlich, wenn auch nicht unbedingt beliebt war der Malermeister Bogner, ein etwas korpulenter älterer Mann mit grauer Sportmütze, der in einem Zimmerchen über seiner Malerwerkstatt wohnte und von dem wir nie genau wussten, ob er eigentlich Patient war oder zum Personal zählte. Er stellte manchmal komische Fragen, auf die wir keine Antwort wussten, und erzählte Dinge, die wir nicht ganz verstanden, von denen wir aber ahnten, dass sie versteckt etwas Schmutziges enthielten. Auch bot er mir und meinen Freunden gelegentlich Zigaretten an, die wir gerne annahmen und heimlich rauchten. Dies trug man meinem Vater zu, der darüber sehr ungehalten war und sich zu erzieherischen Maßnahmen aufgerufen fühlte, auch wenn er hätte erkennen müssen, dass hier die Schuld nicht mich alleine traf. Er zürnte aber nur mir und gab mir eine schriftliche Strafarbeit auf, die darin bestand, vierhundertmal den Satz zu schreiben: „Ich darf nicht rauchen und nicht mit Feuer spielen.“ Da die Ausführung sich hinzog und wohl mehr Zeit in Anspruch nahm, als er es sich selbst vorgestellt hatte, erließ er mir nach hundert Sätzen den Rest. Bogners einziger Gehilfe und ständiger Begleiter, der ebenfalls immer weiße Malerkleidung trug, war ein etwas fetter junger Mann mit starkem dunklem Bartwuchs, der immer nur das Albertchen genannt wurde und der alle Fragen stets nur mit einem gedehnten Ja, ja …, einem leichten Nicken und wissenden Lächeln beantwortete. Mehr habe ich ihn nie sagen hören. Er war nicht unsympathisch, auch wenn sich hartnäckig das Gerücht hielt, er verrichte sein Geschäft gerne in die braunen Farbtöpfe.

Ein Angestellter namens Kaufmann betreute die Landwirtschaft der Anstalt. Er war trocken, sogar etwas grob und unnahbar, so dass wir Kinder ihn nicht mochten. Seine Tochter, mit Namen Isolde, die extrem kurzsichtig war, zählte dagegen zu unseren gelegentlichen Spielgefährten. Kaufmann versorgte auch den Hühner- und Schweinestall. Für letzteren wurden die Abfälle aus der Küche und Essensreste von den Stationen gesammelt und in einem großen Bottich mit Wasser zu einem übel säuerlich riechenden Brei verrührt. Mit seinem Fuhrwerk und Hans, dem einzigen Pferd der Anstalt, kutschierte Kaufmann in die Stadt hinunter, sobald es etwas zu transportieren gab. Dann saß der Herr, noch unnahbarer als sonst, hoch auf dem grünen Wagen und gab dem Pferd seine knappen Befehle, Hüa …!, Brrrrr …!, und schwang auch schon einmal drohend die Peitsche, die ansonsten aufrecht neben seinem Sitz steckte. Hatte er einen guten Tag, was nur allzu selten vorkam, durften wir aufsitzen und ein Stückchen weit mitfahren. Kühe oder andere Tiere gab es nicht. Ob und in welchem Ausmaß zu dieser Zeit noch so etwas wie Ackerbau betrieben wurde, weiß ich nicht, doch erzählte mir mein Vater später, dass man einst im Dritten Reich hier Patienten wie Arbeitstiere vor den Pflug gespannt habe. Ich gebe das so wieder, wie ich es hörte, und es fiele mir nicht im Traum ein, solche Ungeheuerlichkeiten zu erfinden oder anderen andichten zu wollen.

Auch gab es eine Schlosserei und eine Tischlerei, die in einem eigenen Komplex von Werkstätten zusammen mit der Bäckerei untergebracht waren. Die Bäckerei der Anstalt hatte sich zur Weihnacht ausgedacht, die Kinder des Direktors zum Probieren des Weihnachtsgebäcks einzuladen, doch war die Situation über die Maßen verkrampft und peinlich. Die Plätzchen schmeckten uns keineswegs so gut wie erwartet, so dass man die Freundlichkeit zum Glück nicht wiederholte. Ansonsten sah man Kinder aber weder hier noch in den anderen Werkstätten gerne. Die Gefahr, sich zu verletzen, war zu groß, und man hatte Wichtigeres zu tun, als Kinder, die immer irgendwie im Wege standen, zu beaufsichtigen. Eine Schuhmacherei und eine Buchbinderei befanden sich dagegen in Räumlichkeiten der Stationshäuser, in die wir nur selten und nur in Begleitung eines Elternteils kamen, doch entsinne ich mich eines alten schnauzbärtigen Buchbinders, dem ein Fingerglied fehlte. Ein Kölner Drucker erzählte mir später, dass dies früher bei Buchbindern des öfteren vorgekommen und eine Art Zeichen ihres Berufsstandes gewesen sei, da ihre schweren Schneidewerkzeuge vielfach nur unzureichend gesichert waren. Ich besitze heute noch zwei umfangreiche Bände meiner gesammelten und von meiner Mutter stets datierten Kinderzeichnungen, die in der Sinsheimer Anstalt gebunden wurden, und auch ein Konvolut von Mickey-Mouse-Heften, das mir meine Eltern zu Weihnachten 1956 geschenkt hatten.

 

 

Achtes Kapitel
Erste Schulerfahrungen

Die Schulzeit, die ich in Sinsheim an der Sidlerschule, der Grundschule, zu verbringen hatte, hatte verheißungsvoll mit einer guten Lehrerin namens Müller begonnen. Ich mochte sie sehr, und die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie musste unsere Klasse aber schon nach dem ersten Jahr wieder abgeben. In der Folge war der Unterricht alles andere als angenehm und wurde stark von der Furcht vor den männlichen Lehrern bestimmt. Denn dass sie uns Kinder anschrieen und mit dem Stock züchtigten, war keine Seltenheit. Zwar blieb ich selbst bis auf ein einziges Mal von solch rüden erzieherischen Maßnahmen verschont, doch zur gewünschten Einschüchterung und zum Gefügigmachen reichte es allemal, ständig die Bestrafung anderer mitansehen zu müssen. Wer das Titelbild von Koch-Gothas Häschenschule kennt, findet unser damaliges Verhältnis von Schüler und Lehrer unmissverständlich sichtbar gemacht. Heute würde man Lehrer, kämen Brutalitäten wie die erlebten ans Licht der Öffentlichkeit, als ungeeignet für ihren Beruf betrachten und unverzüglich von ihrem Dienst suspendieren. Dass ein großer, kräftig gebauter Mann mit Anzug, Krawatte und Tüchlein in der Brusttasche, der aus dem Ersten Weltkrieg ein Holzbein mitgebracht hatte und kurz vor seiner Pensionierung stand, einen zu bestrafenden Schüler vortreten ließ und mit den Worten Pfötchen her! sein Handgelenk ergriff und festhielt, um ihm dann mit einem Rohrstöckchen in voller Wucht mehrere Streiche auf die Innenseite der abwechselnd flach auszustreckenden Hände zu verabreichen, war gleichviel ein Verhalten, gegen das offenbar weder die Kollegen und Vorgesetzten dieses Lehrers noch die Eltern des Bestraften etwas einzuwenden hatten. Niemand muckte auf und schritt ein, und so schienen die Maßnahmen gerechtfertigt, wurden, wo nicht gutgeheißen, so doch billigend in Kauf genommen, wie sich die Juristen ausdrücken. Und wenn ich auch vermute, dass es den meisten Erwachsenen in ihrer eigenen Schulzeit vielleicht nicht besser als uns erging und sie unter einer ähnlich verkommenen Pädagogik zu leiden hatten, umso schlimmer. Denn dann kannten sie die Schmerzen und die Gefühle, die solche Demütigungen auslösen, und es zeigt, dass sie alle Angst hatten, ihr Maul einmal aufzumachen, sich zu wehren und ihre Kinder zu verteidigen, wenn es Not tat; und dass man, anstatt die Dinge beim Namen zu nennen, sie lieber laufen ließ und aus Duckmäuserei und schierer, platter Feigheit schwieg.

Die körperliche Bestrafung der männlichen Schüler (die Mädchen waren hiervon stets ausgenommen), habe ich später selbst noch am Mannheimer altsprachlichen Karl-Friedrich-Gymnasium erlebt und zum Teil auch wieder am eigenen Leib erfahren müssen; und wenn hier auch kein Stock mehr benutzt wurde, so kann ich noch heute nicht meinen Ekel vor diesen Ungeheuern ihres Berufsstandes ablegen, die ständig ihre eigene Unterdrückung, Ungeliebtheit und schlechte Laune an Wehrlosen ausließen, ihre pädagogischen Ideale zum Drill degradierten und das ehedem vielleicht einmal saubere Nest der Erziehung rücksichtslos beschmutzten. Denn hier ohrfeigte man noch bis in die sechziger Jahre, vom kleinsten und gemeinsten Herrn Studienrat bis hinauf zum Kapitän, dem hohen Herrn Doktor Studiendirektor, und manche prügelten in ihrer Rage mit beiden Händen gleichzeitig auf ihre Schutzbefohlenen ein. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, heißt es, nicht wahr? Der Unterschied zwischen humanistisch und human trat dabei so unzweideutig plastisch vor Augen, dass mir nachgerade jeglicher Stolz auf diese einst privilegierte Schulbildung abhanden kam und ich es nicht über mich brachte, nur ein einziges Mitglied meiner alten Lehrer jemals wiederzusehen, auch wenn ich weiß, dass nicht alle von ihnen Methoden wie die beschriebenen anwandten oder nur befürworteten, und ich den ein oder anderen durchaus gemocht hatte.

Wenigstens einmal begehrte ich Knirps in Sinsheim auf. Auch ein Knirps hat zuweilen seine Würde und seinen Stolz. Ein Lehrer, der uns in Religion oder biblischer Geschichte unterrichtete und dessen Name hier nichts zur Sache tut, geriet fast in jeder Unterrichtsstunde völlig außer sich, wenn etwas nicht seinen Vorstellungen und Erwartungen entsprach, und er tobte und brüllte uns an, als habe er es nicht mit acht- oder neunjährigen Kindern, sondern dem Abschaum der Menschheit zu tun. Da nahm ich einmal allen Mut zusammen, dessen ich fähig war, stand auf (denn nur im Stehen durfte man mit Lehrern sprechen) und sagte mit bebender Stimme, dass demnächst meine Mutter in die Schule kommen werde, wenn er uns immer so anschreie. Danach setzte ich mich wieder und erwartete den Weltuntergang. Zwar trat dieser bekanntlich nicht ein, aber nach einem Augenblick, in dem die Zeit den Atem anhielt, hatte der Sturm plötzlich seinen Höhepunkt überschritten; und wenn das Wettern und Zanken auch noch mehrfach aufloderte, so wurde es aufs Ganze gesehen weniger und ging irgendwann in den normalen Unterricht über. Vielleicht erzählte ich den Vorfall noch nicht einmal zu Hause und baute meine Mutter nur als Drohkulisse auf, doch war auch dies eine wichtige Erfahrung, und es schien ausreichend gewesen zu sein, den Bann des Schweigens, Hinnehmens und Stillhaltens zu brechen und das Problem auf unterster Ebene an- und ausgesprochen zu haben. Nachteilige Folgen hatte mein Verhalten jedenfalls nicht.

Vielleicht war ich bereits durch unsere neuen, gehobenen häuslichen Verhältnisse verwöhnt, obgleich wir in Treysa nur in einer kleinen und fast ärmlichen Wohnung gelebt hatten; und vielleicht hatte ich durch den kurzen Besuch der Treysaer Schule, die ganz neu war, falsche Vorstellungen bekommen, wie es in solch einer Stätte auszusehen habe. Doch der Umstand, dass die Sinsheimer Schule sich in einem denkbar schlechten äußerlichen Zustand befand, verstärkte meine Abneigung gegen sie deutlich, selbst wenn mir das Lernen leicht fiel und ich gute Zensuren mit nach Hause brachte. Alles war in hohem Maße abgenutzt, und die harten, unbequemen Holzbänke waren übersät mit Inschriften, Schnitzereien und Kritzeleien, mit denen sich viele Generationen unserer Vorgänger etwas Luft in ihrer Bedrängnis oder Langeweile verschafft hatten. Den Gipfel der Unreinlichkeit bildete freilich das kleine Toilettenhäuschen auf dem Schulhof, das mit seinen geteerten Wänden einen Gestank verbreitete, der jeder Beschreibung spottet und der vielleicht meine entschiedene Abscheu vor jeglichen derart gemeinschaftlich zu benutzenden Einrichtungen begründete. Darüber hinaus gab es unmittelbar neben der Schule eine Fabrik, die Stoffreste verarbeitete, so dass man stets auf Güterwagen blickte, auf denen riesige Ballen gepresster Lappen und Lumpen gestapelt lagen. Im Grunde waren dies aber Äußerlichkeiten, denen alle, Schüler wie Lehrer, gleichermaßen ausgesetzt waren, die zum Teil mit wenig Aufwand abstellbar gewesen wären oder über die uns Kinder etwas mehr Verständnis, Freundlichkeit und Wohlwollen, ja selbst ein Scherz hinweggeholfen hätten.

Das schlimmste Übel der hier erfahrenen Pädagogik war freilich noch etwas anderes. Denn, ohne es zu merken, verinnerlichte ich das in der Schule so handgreiflich und in gemilderter, zivilisierterer Form auch in der eigenen Familie erlebte Machtgefüge und -gefälle und begann nun selbst, gegenüber schwächeren Mitschülern hart, unerbittlich und gehässig zu werden, sie zu demütigen oder auch körperlich zu drangsalieren, den Besserwisser und Häuptling zu spielen und auf meine Weise, mit meinen Mitteln Untergebene um mich zu scharen. Je nach den Umständen ging ich hierbei eigenständig vor, verbündete mich aber auch mit Gleichgesinnten, die gleich mir einmal den starken Mann hervorkehren wollten. Diesem Verhalten wurde weder von Seiten meiner Lehrer noch der meiner Eltern Aufmerksamkeit geschenkt und gegengesteuert, so dass sich in jenem Augenblick, da ich mir dieser meiner Grobheit und Grausamkeit bewusst wurde, eine Schuld angesammelt hatte, mit der ich nun gleichermaßen allein dastand, die ich nicht ungeschehen machen konnte, deren Ursachen ich nicht kannte und deren Folgen ich nicht wiedergutzumachen vermochte, selbst wenn ich häufig genug ein ähnlich aggressives Verhalten durch Mitschüler hatte erdulden müssen. Dabei konnte ich mir nicht einreden, hier habe es sich nur um jene gelegentlich ausartenden Spiele gehandelt, mit denen die stets zum Vergleich neigenden Kinder und Jugendlichen ihre Kräfte messen und wetteifern, um herauszufinden, wer unter ihnen der Stärkste, Mutigste, Schnellste, Beste oder Größte ist. Es fehlte offensichtlich an jemandem, der erzieherische Begabung, Hellsicht und vor allem anderen das Herz besaß, meine Fantasie ohne Stolz und Überheblichkeit anzuregen und mir mein Verhalten und die nicht schwer verständlichen Zusammenhänge mit einfachen und ehrlichen Worten klar zu machen.

Dennoch wäre es kurzsichtig, dieses tadelnswerte Verhalten nicht auch in größerem Maßstab sehen zu wollen, denn was sich auf meiner vergleichsweise kleinen, unbedeutenden Ebene und sicherlich nicht nur bei mir, in meiner Klasse oder meiner Familie abspielte, wiederholte auf seine Weise, was von den Erwachsenen vorgelebt wurde mit ihren unausgesetzten Kämpfen um Macht, Anerkennung, Rang und Namen, Leistung und Titel, Einkommen, Besitz, Wohlstand, Reichtum und vieles andere, das ihnen notwendig, nützlich und angenehm erschien. Denn diese Dinge waren die eigentlichen Ziele ihrer Bildung und ihres Handelns, nicht die Freiheit des Menschen, die Würde der Schöpfung, die Entfaltung der Jugend, die Freude am Leben, der Sinn für das Schöne, die Achtung des Anderen, die Liebe zur Natur, der Frieden der Seele oder was es da mehr gibt an Erstrebenswertem auf dieser Welt. Dies waren Dinge, die erst nach Erreichung des Vorgenannten und allenfalls am Rande Platz fanden. Doch es bedarf wohl mehr als eines einzigen Lebens, von all den falschen Idealen wieder loszukommen und empfänglich zu werden für das Glück. Und für den Sumpf der Schuld gibt es kein Verfahren, sich nach Münchhausens Vorbild selbst daraus zu retten; denn auch wenn man Gründe findet, sie zu erklären oder zu beschönigen, so verjährt sie gleichwohl nicht vor dem Gewissen, und man behält sie in seiner Seele, in einem versteckten Kämmerlein der Scham, ein Leben lang bei sich, muss sich mit ihr einrichten und kann nur immer wieder ihrer leisen Mahnung als wertvollstem Vermächtnis lauschen. Sie ganz zu vergessen oder mir die völlige Absolution zu erteilen, gelang jedenfalls nie.

Noch in Sinsheim legte ich die Aufnahmeprüfung für die höhere Schule am dortigen Wilhelmi-Gymnasium ab. Da wir aber Anfang 1959 umzogen, bevor meine vierte Klasse zu Ende gegangen war, musste ich vor dem Eintritt in das erwähnte Mannheimer Gymnasium noch einige Wochen die Luzenberg-Schule im gleichnamigen Stadtteil besuchen, die unserem neuen Wohnort, unweit des Landesgefängnisses, am nächsten war. Diese Schule, die man noch zu Kaisers Zeiten um einen bereits vorhandenen Wasserturm herum gebaut hatte, gehörte zu einem Industrie- und Arbeiterviertel, in dem zum Teil noch erhebliche Kriegsschäden sichtbar waren. Der Umgangston war ein gutes Stück rauer als in Sinsheim, doch gleichzeitig auch unkomplizierter. Unser Klassenlehrer fluchte häufig und führte nicht selten Schimpfwörter im Munde, wie man sie offiziell keinem Schüler hätte durchgehen lassen, doch kann ich mich nicht entsinnen, dort jemals körperlichen Bestrafungen begegnet zu sein; und an die Flüche gewöhnte man sich umso schneller, als sie stets dem Sturm im Wasserglas glichen. Anders als in Sinsheim gab es hier einen Werkunterricht, in dem uns die Grundlagen des Buchbindens und der Herstellung des hierbei verwendeten Kleisterpapiers vermittelt wurden, Fertigkeiten und Aufgaben, die meinen Ehrgeiz durchaus zu wecken vermochten und mein handwerkliches Geschick herausforderten. Doch auch ein besonders alberner Religionslehrer, der in seinem schwarzen Kostüm immer mit einem Becher Yoghurt erschien und diesen, halb noch in der Pause, halb schon im Unterricht, behaglich vor der wartenden Klasse auslöffelte, ist mir in Erinnerung. Leider gab es auch zu dieser Schule nur einen ermüdend weiten Fußweg, der sich durch die öden Straßen eines Industrie- und Gewerbegebietes hinzog, doch war diese Übergangszeit, wie gesagt, glücklicherweise nur von kurzer Dauer.

 

 

Neuntes Kapitel
Chemie (Anfang)

Etwas ausführlicher möchte ich auf die Anfänge meiner chemischen Versuche in Sinsheim eingehen, das Weitere hierzu aber für das nächste Kapitel aufbewahren. Denn was hier in kindlich spielerischer Nachahmung begann, setzte sich mit wachsendem Ernst und in ständig sich erweiternder, immer mehr von Bewusstsein und Staunen über die Fülle der Zusammenhänge durchdrungener Form in Mannheim fort und ließ mich dort über längere Zeit hinweg schwanken, ob ich nicht, anstelle Pianist zu werden, lieber Chemie studieren und den Beruf eines Chemikers ergreifen solle. In Sinsheim war von solchen Berufswünschen indessen noch keine Rede, und die ersten Schritte dieser sich bis in mein siebzehntes Lebensjahr erstreckenden Leidenschaft sahen so aus, dass ich zunächst jene Vorgänge, die ich auch schon in Treysa im Labor meines Vaters beobachtet hatte, mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nachzuahmen suchte.

Hatte ich bemerkt, dass die Erhitzung von Substanzen gleich welcher Art in diesem Labor eine herausragende Rolle spielte und gewissermaßen zu den grundlegenden Prozeduren gehörte, so baute ich mir zunächst aus den metallenen Elementen eines sogenannten Stabilbaukastens ein Gestell, in das ich auf einer tieferen Ebene mangels eines Spiritusbrenners eine Kerze und auf einer höheren ein Gefäß platzieren konnte, welches mein Experimentiergut aufnahm. Da ich keine Ahnung hatte, um welche Chemikalien und Substanzen es sich in einem richtigen Labor eigentlich handelte, in welcher Absicht sie einander zugeführt wurden und wie sie sich wechselseitig beeinflussten, griff ich zu dem, was mir einerseits in der Küche, andererseits im Badezimmer zugänglich war. Auch dort befand sich ja alles in Dosen, Tuben und verschraubten oder verkorkten Gläsern, Flaschen oder Büchsen, und auch manches andere, das den Gerätschaften des Labors glich, mochte sich sicherlich nicht minder gut für meine Zwecke eignen. So setzte ich zunächst Pfeffer- und Salzwasser in getrennten Flaschen an und verrührte diese mit verschiedenen Hautsalben, Zahnpasta und anderen kosmetischen Cremen, Pasten, Pudern und Tinkturen im Boden einer kleinen Metalldose. Dann erhitzte ich den entstandenen Brei auf meinem Gestell. Was hier nun als Masse von unbestimmbarer Farbe briet und brenzelte, dampfte und Blasen warf, schmorte und schwelte, entwickelte zusammen mit dem Qualm der allmählich verkohlenden Lackierung des Behälters einen abenteuerlichen Gestank, der mich freilich umso weniger störte, als mir gerade widerliche Gerüche eine unerlässliche Begleitung solcher Experimente zu sein schienen und mich ein sicheres Zeichen dünkten, auf dem richtigen Weg zu sein.

Ein unseliges Missgeschick kühlte freilich schon bald meine Entdeckerfreuden ab. Als ich eines Sonntagmorgens versuchte, ein Glasröhrchen durch die enge Öffnung eines Gummistopfens zu zwängen, zersplitterte dieses und verursachte eine hässliche Wunde in meinem rechten Mittelfinger. Ich lief sofort zu meinen Eltern, um ihnen meine Not zu zeigen, und mein Vater brachte mich schnell ins Badezimmer, um mich zu verarzten. Doch der Schmerz und der Schock waren zu groß: mir wurde schwarz vor Augen, ich verlor das Bewusstsein und erwachte erst nach einer Weile auf dem kalten Steinboden liegend wieder, während mein Vater noch beschäftigt war, meinen Finger zu versorgen. Einige Wochen später musste die Wunde operativ nachbehandelt werden, was sich zum Glück ambulant, ohne Krankenhausaufenthalt, bei einem niedergelassenen Sinsheimer Arzt durchführen ließ. Der tiefe Schnitt vernarbte nur langsam, hinterließ in mir fortan aber ein Vorsichtsgefühl, das mich bei allen künftigen, keineswegs ungefährlichen Versuchen nicht mehr verließ und vielleicht vor neuerlichen körperlichen Schäden bewahrte. Bedauerlicherweise stellte sich nach diesem traumatischen Vorfall eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber der Verbindung von Schmerzen und Blut bei mir ein, und selbst bei den vergleichsweise harmlosen Blutentnahmen aus einem Ohrläppchen oder einer Fingerbeere, die der gesundheitlichen Überwachung dienen, wurde mir regelmäßig übel. Ich kollabierte mehrfach, selbst unter den Händen meines Vaters, der sich alle Mühe gab, mir die Sache harmlos erscheinen zu lassen, so dass ich auch heute noch Ärzte oder Schwestern, die sich mir mit Spritzen nähern, bitte, mich bei der vorzunehmenden Prozedur setzen oder legen zu dürfen.

Meine Experimente bekamen wieder Aufwind, als ich auf unserem Dachboden einen chemischen Experimentierkasten entdeckte, der vormals Rolf Ital, dem Sohn des jüngsten Bruders meiner Großmutter Elisabeth Ital gehört hatte. Warum und wann er auf unseren Dachboden kam, weiß ich nicht, doch nehme ich an, dass man ihn, im Glauben, er könne für mich in fortgeschrittenem Alter noch von Nutzen sein, bei irgend einer Gelegenheit meinen Eltern mitgegeben hatte. Dieses Lehrspielzeug der heute noch bestehenden Stuttgarter Firma Kosmos, das in einem stabilen Holzkasten mit Schiebedeckel untergebracht war, setzte sich aus verschiedenem Zubehör wie Reagenzgläsern, einem kleinen Spiritusbrenner, einem Gestell und einer Halterung für Reagenzgläser und dergleichen mehr zusammen, enthielt aber auch in verkorkten Glasröhrchen noch manche Reste von Chemikalien. Der nicht unwichtigste Inhalt des Kastens war indessen ein kleines Buch, das die durchzuführenden Experimente beschrieb und bebilderte und das, ohne sich in allzu Abstraktes zu verlieren, in pädagogisch geschickter Weise mein Interesse für den Sinn, die Vorbereitungen, den Verlauf und die Ergebnisse der Versuche zu wecken wusste. Die Verbindung zum Alltag und die Brauchbarkeit des erworbenen Wissens wurden dabei ebenso wenig vergessen wie die stets zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen. Dieses Büchlein, das ich leider nicht mehr besitze (ich weiß nicht mehr, wo und wie es verschwand), bildete durchaus eine ernstzunehmende Grundlage meiner gesamten chemischen Kenntnisse, die sich in Mannheim sehr erweiterten, sei es praktisch durch den Ausbau meines kleinen Labors, sei es theoretisch durch Lektüre von Fachliteratur, die ich mir zum Teil von erspartem Taschengeld kaufte oder zum Teil auch aus der im Dalberghaus neu eröffneten Stadtbücherei entlieh.

Ein anderes Buch, das mir aus jener Zeit eines sich regenden Interesses für die Naturwissenschaften in lebhafter Erinnerung ist und das ich, da ich es nicht besaß, erst in jüngerer Zeit für wenig Geld antiquarisch erwarb, erneut las und dann wieder verschenkte, waren „Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle“ von Bruno H. Bürgel, ein Jugend- und Volksbuch, das sich in den zwanziger Jahren weiter Verbreitung erfreut hatte. Diese oft utopischen und düster illustrierten Erzählungen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Technik und Forschung, die ihre Kenntnisse so verständlich wie spannend aufzubereiten wussten, nahmen mich schnell für sich ein. Wie hätte ich da jene merkwürdige Flasche im Labor meines Vaters, die in einem mit Holzwolle gepolsterten Kistchen lag und mit einem Spezialverschluss vor jedem unbefugten Zugriff gesichert war, nicht mit Ulebuhles schauriger Erzählung „Der Tod in der Flasche“ in Verbindung bringen sollen, worin vom Ausbruch der Pest in Indien, dem englischen Arzt Dr. Gravesgrave und seinem bösen Diener Shingar berichtet wurde?

Mein Vater freute sich jedenfalls, auch ohne dies allzu offen zu zeigen, über meine Entwicklung und meine neuen Interessen, die in gewisser Weise an seine eigenen anknüpften oder diese fortsetzten und bei denen er mir durch seine einschlägigen Erfahrungen manch nützlichen Hinweis und guten Rat geben konnte. Doch noch auf andere Weise unterstützte er mein Tun, denn er half mir des öfteren mit fehlenden Chemikalien aus seinem Labor aus und versorgte mich aus den Anstaltsapotheken in Sinsheim und mehr noch in Mannheim mit leeren Pillen- und Tablettenflaschen, die dort täglich anfielen und gewöhnlich weggeworfen wurden. In diese konnte ich nun neu erworbene oder auch selbst hergestellte Substanzen abfüllen und nach sachgemäßer, fachgerechter Beschriftung meiner kleinen Sammlung einverleiben, ganz so zweckmäßig, ordentlich und griffbereit, wie ich es im großen Labor meines Vaters oder auf Bildern gesehen hatte. Auch anderes Zubehör, das veraltet war oder ausgedient hatte, brachte mir mein Vater gelegentlich mit; er sah voraus, dass ich irgendwann Verwendung dafür fände. Ich will indes den Ereignissen nicht weiter vorgreifen, denn in der Hauptsache fielen meine chemischen und parallel hierzu physikalischen und elektrotechnischen Betätigungen in unsere Mannheimer Zeit und verliefen dort mehrere Jahre lang parallel zu meinen Erfahrungen und Versuchen am Klavier.

Ein Buch, das mir den Übergang von Sinsheim nach Mannheim erleichtern sollte, trug den Titel „Mannheim in Sage und Geschichte. Volkstümliche Erzählungen“ und war von dem „Schulmann“ Gustav Wiederkehr (1869–1927) verfasst. Meine Großmutter schenkte es mir nach unserem Umzug und versah es mit einigen Zeilen, die auf dem freien Platz unter seinem Vortitel folgten: „– widme ich Dir, mein lieber Herbert, zu Deinem 11. Geburtstage, der zum ersten Male in der neuen Heimat gefeiert wird. Mögest Du manches daraus entnehmen, was Dir zu Nutz und Frommen dient. Herzlichen Glückwünsch! Deine Oma. Mannheim, 28. Juli 1959“. Die guten Wünsche gingen leider nur teilweise in Erfüllung, wie es vielleicht auch nicht anders sein kann. Der Schutzumschlag des in hellem Ganzleinen gebundenen Buchs ging verloren, das Papier dunkelte nach, der Rücken des Bandes vergilbte und wurde fleckig, der vordere Buchdeckel begann sich zu wölben, und ein stickiger Geruch von Alter entstieg den Seiten, als ich zuletzt darin blätterte. All dies kam im Laufe der vergangenen fünfzig Jahre zustande, wobei ich das Buch freilich niemals von vorne bis hinten las und mich nur in jenes Kapitel vertiefte, da man im Mai 1820 frühmorgens den Studenten Karl Sand in Mannheim zum Schafott führte und mit dem Schwert hinrichtete.

 

(Deinstedt, 2003–2004; diverse Nachträge)

 

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Erste Eingabe ins Internet:  Donnerstag,  19. Februar 2004
Letzte Änderung:  Donnerstag,  28. April  2016

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