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»Herz, ich bitt’ Dich, lass mich weinen!«
Autobiographische Studie aus musikalischem Hause
Autobiographische Studien I
von
Herbert Henck
Kapitel 1: Noten und Bücher
Kapitel 2: Mein Vater
Kapitel 3: Meine Mutter
Kapitel 4: Schaukeln und Hopsen
Erstes Kapitel Noten und Bücher
Da ich seit längerem versuchte, einen Überblick zu erhalten, was sich mir von meinen Eltern oder anderen Vorfahren in musikalischer Hinsicht vererbt habe, zog ich erst aus meinen
Büchern, dann aus meinen Notenbeständen all das heraus, von dem mir bekannt war, es habe sich einst in Familienbesitz befunden und sei auf mich überkommen. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich zwar, das ein oder
andere in meiner kleinen Bibliothek sei diesem Erbe zuzurechnen, doch hatte ich nur eine sehr ungenaue Vorstellung von der Menge und der Herkunft desselben im Einzelnen. Ich beachtete nun besonders die
handschriftlichen Besitzvermerke und Datierungen auf dem Inneren der Buchdeckel oder den ersten Seiten wie auch alle sonstigen persönlichen Eintragungen und trachtete, sofern kein Erscheinungsjahr angegeben war,
mit den gängigen bibliographischen Hilfsmitteln festzustellen, wann die Drucke veröffentlicht waren. Hiermit glaubte ich den Ablauf der Geschehnisse besser nachvollziehen zu können. Zur Erleichterung der
Übersicht nahm ich alles Aussortierte in einer nach verschiedenen Merkmalen gegliederten Liste auf, die schließlich etwas mehr als zweihundert Titel erfasste, eine Anzahl, die ich bisher weit unterschätzt
hatte.
Doch war über die Jahre nicht alles meinen eigenen Beständen einverleibt worden. Stets hatte es ein oder zwei gewichtige Kartons gegeben, in denen vornehmlich die Tanz- und
Filmmusiken der dreißiger und frühen vierziger Jahre sowie die von meiner Großmutter übernommenen Musikalien aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, Salonmusik insbesondere, ein Schattendasein führten.
Wann sie in meinen Besitz gekommen waren, vermag ich heute nicht mehr zu sagen; vermutlich hatte sie mein Vater einmal in der Annahme mitgebracht, bei mir seien sie besser aufgehoben als bei ihm. Da sie mir
aber vorerst in keiner Weise dienlich schienen, hatte ich den auf den Regalen verfügbaren Platz für Aktuelleres nutzen wollen. Vieles hatte sich durch gelegentliches Suchen, Umräumen und Umzüge immer wieder neu
vermischt, was dem Äußeren der Noten nicht gut bekommen war. Die Ränder ungebundener Einzelausgaben waren häufig geknickt, eingerissen oder im Falle schlechten Papiers, wie man es zuweilen, etwa bei
kriegsbedingtem Rohstoffmangel, hatte verwenden müssen, auch gebrochen. Anderes war durch einen langjährigen Gebrauch oder unsachgemäße Lagerung aus dem Leim gegangen, dunkel und teilweise sogar stockfleckig
geworden. All dies ordnete ich nun, so gut ich konnte. Einige Bruchstücke blieben freilich übrig und kamen in einen eigenen Umschlag, nachdem ich ihre verbliebenen Kennzeichen notiert hatte, um eine Zuordnung
ergänzender Funde leichter zu bewerkstelligen.
In einem schwarzen, schon recht lädierten Sammelband meiner Großmutter, in dem ein Buchbinder zahlreiche Einzelausgaben von Salonstücken nicht vor 1910 (so das späteste
Copyright) vereint und manche darunter sogar restauriert hatte, entdeckte ich dann zufällig auch das Lied »Herz, ich bitt’ Dich, lass mich weinen!« jenes Berliner Kapellmeisters und
Operettenkomponisten Louis Ital, der zur Familie meines Vaters gehörte und den meine Großmutter, eine geborene Ital, leicht noch persönlich hätte kennen können. Der Liedtext stammte von Anton Herrnfeld, dem
»Director des Budapester Possen- u. Operetten-Theaters zu Berlin«, wie es auf dem Titelblatt hieß. Zwei Strophen nahmen unmittelbar Bezug auf Ereignisse des Jahres 1898, so dass das Lied frühestens in diesem
Jahre entstanden sein konnte – die vierte Strophe erwähnte den Tod des Kanzlers Otto von Bismarck, und die sechste begann:
Ein Schmerzensschrei tönt heut durch Oestreichs Gauen, vom Kaiserhaus hallt’s durch das Weltenall: Die Kaiserin, die edelste der Frauen, sie sank dahin durch feiger Buben Stahl.
Hiermit müsste das Attentat auf die Kaiserin Sissi gemeint sein, die im September 1898 in Genf von einem italienischen Anarchisten mit einer Feile erstochen wurde. Auch eine Parodie
»Fuhrmann Henschel«, die ein Verlags-Eigeninserat auf dem Umschlag der Ausgabe als »Urkomische Soloscene« anpries, deutete indirekt auf das Jahr 1898, in dem Gerhart Hauptmanns gleichnamiges Drama in Berlin
uraufgeführt wurde. Der Copyright-Vermerk 1899 auf einer Werbeseite belegte indes, dass der Druck nicht vor diesem Jahr erschienen war.
Louis Ital, der von 1878 bis 1929 lebte und seit Ende 1910 auch ein Theaterorchester in den ehemaligen »Prachtsälen« Berlins leitete, die man in ein Lichtspieltheater umgebaut
hatte, war Sohn des 1844 in Paris geborenen Eckardt Ital; und Eckardt Itals Bruder, Johannes Ital (1839–1876), war einer meiner acht Ururgroßväter, denn sein Sohn Heinrich (1868–1933) wurde der Vater
meiner Großmutter Elisabeth Ital (1895–1977), der Mutter meines Vaters. Eine musikalische Betätigung lässt sich jedoch noch eine Generation weiter zurückverfolgen, denn Eckardt und Johannes Itals Vater
George Ital (1797–1876) war von Beruf Musikant, Wirt und Ackermann. Fast alle diese Angaben entnehme ich einem Stammbaum, den Mark Ital, gleich mir ein Urenkel Heinrich Itals, im Jahre 1991
zusammengestellt hat und den mir mein Vater seinerzeit für meine persönlichen Dokumente übersandte. Später bewahrheitete sich, was ich ebenfalls diesem Stammbaum entnahm, dass nämlich Gerta Ital, die als
Verfasserin von drei Büchern über den Zen-Buddhismus in den einschlägigen Kreisen bekannt wurde, die Tochter von Louis Ital war. In ihrem Buch »Auf dem Wege zu Satori«, das 1971 erschien, beschreibt sie
nämlich ihre Jugend und den Tod ihrer Eltern, und bei dieser Gelegenheit kommt auch manches aus dem Leben ihres Vaters zur Sprache, das eine Verwechslung ausschließt.
Durch Zufall sah ich im Herbst 2016 Gerta Itals (1904–1988) Namen auf einer online-Zeitungsseite in einem Konzert-Inserat des Jahres 1928, kurz danach
auch in einem Konzertplan Berlins, der auf das Jahr 1922 zurückging. [1] Ich holte Gerta Itals Bücher herbei, um mich über ihre Biografie eingehender zu belesen, da ich zwar von autobiografischen Teilen wusste, jedoch nichts von einer musikalischen Ausbildung – oder eine solche seinerzeit nicht zur Kenntnis genommen hatte. Gleichwohl hatte sich in meinem kindlichen Gedächtnis eine Szene mit Gerta Ital erhalten, in der sie strikt von sich wies, ihre Brötchen jemals mit Marmelade und Senf (Mostrich) gleichzeitig bestrichen zu haben, wie wir als Kinder behaupteten. In Treysa hatte sie uns wohl auch einmal besucht, doch hatte ich selbst keine Erinnerung an diesen Besuch und wusste alles nur aus Erzählungen, die weit zurücklagen. In den Büchern von Gerta Ital war zwar nichts von einer sängerischen Ausbildung gesagt, doch ging daraus hervor („Auf dem Wege zu Satori“, ihr zweites Buch [1971], siehe oben, S. 15), dass ihr Klavierunterricht bei dem Vater (Louis Ital) im Alter von sechs Jahren begonnen hatte. Dann war auf derselben Seite die Rede davon, dass „in den Oberklassen der Schule sehr viel verlangt wurde“ und sie außerdem Musik „studierte“. Ob man dieses „Studieren“ jedoch wörtlich zu nehmen hat, ist ungewiss. „Hier muß ich einfügen“, heißt es zwei Seiten weiter, „daß auch sie [ihre Mutter] Künstlerin, Sängerin, gewesen war, die, als sie meinen Vater, der etwas jünger war, kennen lernte, in ihrem herrlichen Beruf schon die halbe Welt bereist hatte. Als ich zur Schule kam, nahm sie Abschied von der Bühne.“ (S. 17) Sofern ich die Ereignisse richtig deute, wurde Gerta Ital Schauspielerin; von einem anderen Beruf habe ich keine
Kenntnis, die über das in ihren Büchern Gelesene hinausgeht. – Ihr Rollenstudium erlernte sie bei dem in Wien geborenen Film- und Theaterschauspieler Eduard von Winterstein.
In dem Buch „Der Meister, die Mönche und ich. Eine Frau im Zen-Buddhistischen Kloster“, das sie als erstes 1966 schrieb (11/85 · 2. Auflage,
genehmigte Taschenbuchausgabe © by Gerta Ital, Goldmann, Grenzwissenschaften Esoterik, Nr. 11731), heißt es erklärend: „Denn nicht nur, daß ich durch einen Halstumor von grausamen Schmerzen heimgesucht
wurde und nachts nur noch sitzenderweise schlafen konnte, sondern auch meine Stimmbänder wurden durch die Behandlung mit Röntgenstrahlen so verletzt, daß ich als erste Folge, sobald ich nur wenige Minuten sang
oder sprach, heiser wurde und mir meine Stimme dann nach und nach überhaupt nicht mehr gehorchte, so daß ich gezwungen war, meinen Beruf als Schauspielerin aufzugeben.“ (S. 21) „Und mein
Flügel?“, fragt sie rhetorisch, die Dinge durchgehend, an denen ihr Herz bei der Zerstörung Berlins zu Kriegsende 1945 noch hing und die sie in der Folge alle gänzlich aufgeben musste. „Und mein Flügel?
Er war ein Teil meines Lebens gewesen, denn aus einem Musikhaus stammend, mit Musik aufgewachsen, war das Klavierspiel, nachdem meine Stimme jahrelang hatte schweigen müssen, die schönste Freude für mich
geblieben. Es war eine reine Freude gewesen. Und trotzdem –!“ (S. 27) So fügte sich eins zum anderen, und es war anzunehmen, dass Gerta Ital zwar in den zwanziger Jahren Musik studierte, später
aber infolge einer schweren Erkrankung den Wunsch einstellen musste, jemals als Schauspielerin oder Sängerin ein Auskommen zu haben. Heute ist sie in der Wikipedia (auch englisch und französisch)
nachschlagbar.
Besprechung des ersten Konzertes vom 29. November 1922
„ G e r t e [recte: Gerta] I t e l [recte: Ital], von G e o r g
S ch u m a n n begleitet, hatte Brahms, Strauß und Korngold auf ihr Programm gesetzt. Die neuen Lieder von E r i ch W o l f g a n g K o r n g o l
d sind ganz wunderhübsche Sachen, voll musikalischer Einfälle, apart und doch nicht gesucht, melodisch und natürlich empfunden. Nach Mariettas Lied aus ,Die tote Stadt‘. [recte: ,] einem
besonders stimmungsvollen Stück, darf man auf die Oper gespannt sein. Trotz stimmlicher Indisposition trug Frau I t e l [recte: Ital] diese Gesänge mit musikalischer Empfindung vor und hatte damit
Erfolg.“
Ãœberschrift: „Konzerte.“ (unsigniert), 4. Absatz: in: „Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung“, 51. Jg., Nr. 549, Abend-Ausgabe,
Chef-Redakteur: Theodor Wolff, Berlin: Druck und Verlag von Rudolf Mosse, Sonnabend, 2. Dezember 1922, S. 4, Sp. [1], Gesamtumfang: 6 Seiten.
Besprechung des zweiten Konzertes vom 5. März 1928
Das Konzert von 1928 fand ich mehrfach in diesem Jahrgang erwähnt (einmal also zusätzlich zu dem Inserat am unten stehenden Tag vor dem Konzert, das ist der 4. März 1928), erneut umrahmt von illustren Namen wie Wilhelm Furtwängler, Artur Schnabel, Mary Wigman, Bronisław Huberman und Edwin Fischer und natürlich weniger Berühmten. Es handelte
sich um ein Inserat, das am Sonntag, dem 26. Februar 1928 (erstmals?) in der Zeitung „Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung“ erschienen war (Morgen-Ausgabe, Ausgabe für Berlin, 57. Jg.,
Nr. 97, S. [41], mittlere Sp.). Das Konzert mit Gerta Ital sollte voraussichtlich am Montag, dem 5. März 1928 im Bechsteinsaal (Linkstr. 42) stattfinden. Am Flügel waren Dr. (phil.) Felix Günther bzw. der Berliner Komponist Max Trapp mit einem eigenen Gesangswerk. Ansonsten führte Gerta Ital hier Lieder von Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert und Claude Debussy auf. Zwei Besprechungen des Konzerts sind unterhalb dieses Absatzes zu finden. Das Jahr 1928 bedeutete, laut der Webseite „Testimonies of awakening“, Gerta Itals Hinwendung zu sprituellen Ansätzen. Die
Beschäftigung mit Themen des Zen-Buddhismus geschah aber erst 1953–1955.
„Nach mehrjähriger Pause hörte ich im Bechsteinsaal die Sopranistin G e r t a
I t a l unter der Klavierbegleitung Dr. Felix Günthers, nach der F-dur-Arie der Figaro=Susanne einige Lieder von Schubert und Schumann vortragen und muß leider sagen, daß mich der Abend
einigermaßen enttäuscht hat. Die junge Sängerin hat damals mehr versprochen als sie jetzt gehalten hat. Zwar ihr in seinem Tonvolumen ziemlich eng begrenzter Sopran hat an Wohlklang nichts eingebüßt, doch
machte sich in ihrem Gesange öfters eine zu enge Tongebung bemerkbar, und nicht selten blieb auch die Intonation anfechtbar, wurde der Ton um eine Schwebung zu tief angesetzt. Im übrigen ließ der Vortrag jedoch
wieder ein richtiges musikalisches Empfinden, wie auch eine besondere Veranlagung für das Gebiet zart=empfindsamer Lyrik erkennen. So gelang der Künstlerin ganz besonders Schumanns ,Mondnacht‘, dessen
Wiedergabe, wie von zartestem Duft umwoben, namentlich durch das leise Verhallen des Tons am Schlusse angenehm berührte. –– Hoffentlich ist Fr[äu]l[ein] Ital in der Lage, die oben angedeuteten Mängel
ihrer Gesangsweise recht bald abzustellen!“
––i. (einzige Signatur), Seite: „Kunst und Wissenschaft“, hier „Aus den Konzertsälen“, in: „Berliner Börsen=Zeitung“,
73. Jg., Nr. 121, Morgenausgabe, Sonntag, den 11. März 1928, S. 7, Sp. [1]–[2]; hier Sp. [2] (letzter Absatz des Artikels).
Andere Besprechung des zweiten Konzertes vom 5. März 1928
Dies ist eine Besprechung des zweiten Konzertes in einer anderen Zeitung, die aber knapp zwei Wochen später als die vorausgehende erschien.
„ G e r t a I t a l gab schon vor einigen Jahren Liederabende, an denen ihr hübsches Vortragstalent und ihre musikalische
Begabung hervortraten. Doch wie damals die Neigung zur Uebertreibung den Eindruck abschwächte, so wäre auch diesmal durch ein einfacheres, natürlicheres Empfinden der Wert der Vorträge gesteigert worden. Frau
Ital behandelte im übrigen die ,Fêtes galantes‘ von Debussy und die für sie wenig dankbaren neuen Lieder von Max Trapp musikalisch sehr sorgsam. Ihre Stimme ist nicht bedeutender geworden. Einige hübsche
Kopftöne ausgenommen, klingt sie recht resonanzlos.“
Unsigniert, Ãœberschrift: „Konzerte.“, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 57. Jg., Nr. 141, Ausgabe für Berlin,
Morgen-Ausgabe, Berlin: Druck und Verlag von Rudolf Mosse, Freitag, 23. März 1928, S. [3], Sp. [1]–[2], hier Sp. [1].
*
Es liegt mir fern, aus der Kenntnis dieser genealogischen Zusammenhänge irgend etwas ableiten zu wollen, etwa hinsichtlich meiner eigenen musikalischen Neigungen und Fähigkeiten.
Zu oft hatte ich den Eindruck, dass Forschungen dieser Art nur der Aufgabe dienen, einen aus dem Leben entweichenden Sinn durch die Geborgenheit in einer möglichst langen Ahnengalerie aufzufangen und den Mangel an
Eigenem durch den Stolz auf die Altvorderen zu ersetzen. Jedes Mitglied einer Familie erhält hier allein dank seiner Existenz auf Erden so unbestreitbar eine Stellung und Bedeutung, dass leicht vergessen wird, ein
Stammbaum stehe ausnahmslos hinter jedem Menschen, ja jedem Geschöpf, und verliere sich früher oder später gnädig, erst im Dunkel der Geschichte, dann der Primatologie, bevor er in die wohl unvermeidliche
Erkenntnis mündet, eigentlich müsse jeder mit jedem verwandt sein. Der Stammbaum dokumentiert zudem oft nur das zufällige Vorhandensein von Dokumenten, die Belegbarkeit, wie er die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede, Traditionen und Brüche in einer Familie hervorhebt. Keineswegs ist es ein Verdienst, Kaiser, Könige, Künstler, Staatsmänner, Nobelpreisträger oder welche Würdenträger auch immer zu seinen
Vorfahren rechnen zu dürfen, wie es einem Menschen gerechterweise nicht zum Nachteil gereichen darf, dergleichen nicht oder schlimmstenfalls nur Bösewichte unter seinen Angehörigen ausmachen zu können.
Indes kann ich mein Forschen, das ich hier nun auch noch schriftlich festhalte und öffentlich nachlesbar mache, nicht besser begründen als mit dem Wunsch, nicht nur ein möglichst
konkretes, wenngleich notwendig bruchstückhaftes historisches Wissen über meine Vorfahren zu erlangen, sondern auch eine Art Gefühl für jene spezifische Vergangenheit zu entwickeln, aus der heraus ich selbst zum
Leben und zum Bewusstsein erwachte. Erst das Zusammenspiel von Kenntnis und Empfindung scheint mir die Voraussetzung zu bilden, die Prägung durch die Familie ebenso klar wahrzunehmen wie jene leichter spürbare,
weil von außen kommende durch den Staat mit seinen Gesetzen, Einrichtungen und Vorschriften. Mein Ausgliedern des materiell Ererbten aus dem, was ich mir selbst erworben hatte, stellte zugleich aber eine Form
der inneren vorsichtigen Abgrenzung dar, das Erbe nicht als Selbstverständliches, Unbewusstes, hinzunehmen, sondern es als allzu Nahes, Gewohntes, Übertragenes, Überantwortetes in eine Entfernung zu rücken,
aus der heraus es sich leichter betrachten und einschätzen ließ. Dies einen Akt der Befreiung zu nennen, wäre gewiss ein zu großes Wort für einen Vorgang, bei dem die ernst gemeinte Bemühung vielleicht schon
das Nehmen der ersten Hürde bedeuten mag. Abstand nehmen im Dienste der Perspektive, gleich wie ein Betrachter mitunter abrückt von einem Bild, um zuvor nicht wahrgenommene Zusammenhänge besser zu sehen, wäre
wohl die treffendere Bezeichnung.
War in meiner Familie kaum mehr als die Tatsache bekannt, einer der Ital-Vorfahren sei in Berlin Kapellmeister gewesen, so war ich erstaunt, jetzt eine Komposition von ihm in Händen
zu halten; und noch mehr überraschte mich, seinen Namen in dem »Tonkünstler-Lexikon« von Frank-Altmann, das auf der Ausgabe von 1936 fußt, alsogleich nachschlagen zu können. Diesem Lexikon zufolge war Louis
Ital einst Kapellmeister des Berliner Herrnfeld-Theaters gewesen und hatte Operetten, Couplets sowie Tänze verfasst. Das »Gebrüder-Herrnfeld-Theater« des in ihrem Genre hochbegabten jüdischen Brüderpaares
Anton und David Donat Herrnfeld, die als Unternehmer, Stückeschreiber und Hauptdarsteller fungierten, war in den 1890er Jahren am Bahnhof Alexanderplatz hinter den Königskolonnaden eröffnet worden. Bald erfreute
es sich so großer Beliebtheit, dass der Begriff »Herrnfeldtheater« zur Redewendung wurde. 1906 konnten die Brüder, die Millionen verdienten, in der Kreuzberger Kommandantenstraße ihr eigenes Theater in einem
Neubau eröffnen (unter Hitler und Hinkel war hier der Jüdische Kulturbund untergebracht). Kurt Tucholsky gehörte zu den rückhaltlosen Bewunderern der Herrnfelds, schrieb in der »Schaubühne« über sie und
berichtete, er habe sich über die Scherze der beiden »krank und wieder gesund gelacht«.
Alle diese Dinge kamen in meiner Familie nie zur Sprache; und zu einer Zeit, da noch Verwandte lebten, die ich hätte fragen können, interessierte mich diese
ferne Vergangenheit nicht, wie sie offenbar auch niemanden sonst interessierte. Die Tatsache, dass meine Großmutter zwar eine Komposition Louis Itals besessen hatte, andererseits von diesem gewiss nicht
mit mir und wahrscheinlich auch nicht mit meinem Vater sprach, gibt indes zu denken. Vielleicht hüllte sie in den dreißiger und vierziger Jahren ihrem Sohn gegenüber einen Mantel des Schweigens um diese
Verwandtschaft, um nicht unnötigerweise in der eigenen Familie ein Vorbild für den Musikerberuf zu liefern – dazu noch aus dem Bereich der »leichten Muse«, die man zwar liebte, die zum Lebensinhalt aber ebenso wenig taugte wie zum Lebensunterhalt. Vielleicht schreckte sie auch der Gedanke, Louis Itals langjährige Zusammenarbeit mit
dem jüdischen Unternehmen der Herrnfelds, die ihr Judentum auf der Bühne so provokant wie lustvoll zur Schau gestellt hatten, könne den Nationalsozialisten zu Ohren kommen und sich irgendwie nachteilig
auswirken. Sicherlich hätte mir auch mein Vater von Louis Ital erzählt, wäre ihm etwas bekannt gewesen, das über die Eintragungen im Ahnenpass unserer Familie hinausging. Ob es sich bei jenem Joseph
Auer, dessen handschriftlicher Namenszug auf dem Titelblatt des genannten Herrnfeld-Italschen Liedes steht, um jenen Geistlichen, religiösen Schriftsteller und Komponisten gleichen Namens handelte, der von
1855 bis 1911 lebte, muss vorläufig dahingestellt bleiben; zeitlich scheint es aber möglich.
Erst jetzt, Ende Juni 2001, da ich die mir vererbten Noten zu drei übersichtlichen Stapeln geordnet griffbereit neben mir liegen sehe, stelle ich durch Zufall fest, dass der genannte
Sammelband mit Salonmusik genau das gleiche schwarze Material als Einband hat wie eine nachgebundene Ausgabe von Mozarts Sonaten, die ich in jungen Jahren zur Einstudierung benutzte. Dies führt zu dem
Schluss, dass auch diese Mozart-Ausgabe meiner Großmutter gehörte, und dass das nachträgliche Bindenlassen von Noten hier seinen Anfang nahm. Denn sowohl an der Sinsheimer Kreispflegeanstalt wie an den
Mannheimer und Stuttgarter Straf- später: Justiz-Vollzugsanstalten, an denen mein Vater arbeitete, gab es Buchbindereien, die den Angestellten dieser Institutionen für wenig Geld ausgezeichnete handwerkliche
Qualität lieferten. Viele Dutzende meiner Notenhefte und Bücher wurden hier dauerhaft, manche darunter bibliophil gebunden und gelegentlich sogar mit passenden Schubern versehen, und auch mein Vater machte regen
Gebrauch von dieser nützlichen Einrichtung.
Zweites Kapitel Mein Vater
Mein Vater hieß mit vollem Namen Wilhelm Heinrich Helmut Henck. Er wurde am 6. Juni 1920 in Kassel geboren und starb am 31. Dezember 1994 in Edertal-Hemfurth. Geschwister hatte
er keine. Sein Vater war Karl Henck (1893–1955), Zahnarzt, zuletzt wohnhaft in Schrecksbach zwischen Ziegenhain und Alsfeld. Dieser war der Sohn von Wilhelm Henck, einem vorzeitig pensionierten Schulrektor und
Verfasser zahlreicher vor 1933 erschienener Unterrichtsbücher für die ersten Schuljahre. Die Mutter meines Vaters hieß mit Mädchennamen Elisabeth Ital (1895–1977); sie war die Tochter des Kasseler
Hoteliers Heinrich Ital (1868–1933) und seiner Frau Anne Christine Emilie (1871–1949), die mit Mädchennamen Hansen hieß und aus Frederiksberg in Dänemark stammte. Von den beiden Großvätern übernahm
mein Vater seine Vornamen, er selbst hieß mit Rufnamen Helmut.
Die wichtigsten musikalischen Anregungen erhielt mein Vater in seiner Kasseler Gymnasialzeit, der ein Aufenthalt von knapp eineinhalb Jahren (Oktober 1932 bis März 1934) an dem
traditionsreichen Internat »Schulpforte« bei Naumburg an der Saale vorausgegangen war. Dieses Internat war von meinen Großeltern nicht in erster Linie gewählt worden, um meinem Vater eine
überdurchschnittliche Schulbildung zukommen zu lassen, sondern war gewissermaßen eine aus der Not geborene und letztlich eigene Erziehungsunfähigkeit eingestehende Maßnahme gewesen. Mein Vater hatte nämlich zu
Beginn seiner Gymnasialzeit eine sehr starke Aggressivität und Aufsässigkeit entwickelt, die darin gipfelten, dass er einen Lehrer, der ihn züchtigen wollte, körperlich angriff und durch einen Tritt an der Hand
verletzte. »Schulpforte« war wohl eine der Konsequenzen dieses Vorfalls.
Über die musikalische Ausbildung in »Schulpforte« ist mir aus Erzählungen meines Vaters nichts bekannt; die Berichte beschränkten sich vor allem auf die hohen Ansprüche und die
streng überwachte Disziplin dieser »Elite-Anstalt«, an der einst Berühmtheiten wie Klopstock, Fichte, Ranke und Nietzsche zur Schule gegangen waren. Jüngere Schüler wurden von den älteren beaufsichtigt und
bei Verstößen gegen die Hausordnung wohl auch von diesen gemaßregelt; zu bestimmten Stunden des Tages gab es ein Schweigegebot, und in den obersten Klassen hatte die lateinische Sprache im Unterricht als
alleiniges Mittel der Verständigung zu dienen. Mein Vater bewahrte die ihm verbliebenen Ausgaben der »Pförtner Blätter«, des Organs der Schule, sorgfältig auf, und sie standen, später in einem schwarzledernen
Konvolut vereint, in einer Vitrine mit Familiendokumenten. Zu diesen wie zu anderen persönlichen Dokumenten, auch zu solchen, die aus meiner eigenen Vergangenheit stammen, habe ich heute infolge innerfamiliärer
Streitigkeiten keinen Zugang mehr. An die Umschläge der »Pförtner Blätter« mit ihrem »gotischen« dunkelbraun düsteren Druck auf dunkelgrünem Karton kann ich mich aber noch gut entsinnen.
Noch bevor »Schulpforte« offiziell in eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt umgewandelt wurde, verließ mein Vater das Internat wieder und kam als Pensionär für den
Rest seiner Gymnasialzeit in die Gauhauptstadt Kassel zu einer vielköpfigen Pflegefamilie namens Krug. Ihr Oberhaupt, »der alte Krug«, war ein ehedem als Lehrer tätiger Frührentner, dessen
Erziehungsstil sich dadurch hinreichend kennzeichnet, dass er, sobald er Wohnung und Haus verließ, seinen Hut auf den Küchentisch legte und mit diesem Popanz seine Herrschaft auch in Abwesenheit kundtat.
Körperliche Züchtigungen waren auch hier keine Ausnahme. Die Zeit am Kasseler Wilhelms-Gymnasium erstreckte sich schätzungsweise von 1935 bis 1938/39 zum Abitur.
Das musikalische Interesse war wohl vor allem durch die Mutter meines Vaters, die Klavierunterricht genommen hatte und gerne als »höhere Tochter aus besserem Hause« galt, angeregt
worden und wurde nun in Kassel besonders von dem bewunderten Musiklehrer (vermutlich Adolf, genannt Adi) Maser gefördert. Seinen Namen fand ich einige Male in Zeitschriften der dreißiger Jahre im Zusammenhang mit
Choraufführungen erwähnt. Mit Maser scheint mein Vater recht vertraut, ja fast befreundet gewesen zu sein, was eine kleine Begebenheit bei der mündlichen Prüfung in Musik für das Abitur zeigte. Die Rede war auf
die 1937 in Kassel uraufgeführte Volksoper »Tobias Wunderlich« von Joseph Haas gekommen, der seinerzeit als einer der bedeutendsten deutschen Komponisten galt, heute gleichwohl im Konzertleben so gut wie
vergessen ist. Trotz dieser Popularität fiel meinem Vater, vom Prüfer befragt, Haas’ Name nicht ein, auch wenn er ihm auf der Zunge gelegen haben müsste. Maser versuchte nun zwar, hinter dem Rücken des
Prüfers vorzusagen, indem er sich beide Hände mit emporgestreckt wackelnden Zeigefingern an den Kopf hielt, um die Ohren eines Hasen anzudeuten und so der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Doch es nutzte
nichts: Helmut Henck musste passen und erhielt nur eine Zwei anstatt der erhofften Eins.
Eine Eins wäre gleichwohl auch ohne die Kenntnis von Haas’ Namen berechtigt gewesen, denke ich, denn mein Vater hatte mittlerweile so respektabel Querflöte spielen gelernt, dass
er gelegentlich im Kasseler Staatsorchester als Aushilfe einsprang. Seine Flöte, die er bis ans Ende seines Lebens in dem erwähnten Geschichtsschrank verwahrte, war aus schwarzem Holz mit neusilbernen
Klappen-Beschlägen gefertigt, bestand jedenfalls im Wesentlichen nicht aus Metall, denn man legte im Kasseler Orchester besonderen Wert darauf, nur echt hölzerne Holzblasinstrumente zu verwenden. Bei wem mein
Vater damals Flötenunterricht nahm, weiß ich nicht, könnte mir durch seine Verbindung zum Orchester aber leicht dessen Ersten oder Zweiten Flötisten als Lehrer vorstellen.
Sein Interesse am Flötenspiel oder überhaupt an jeder Art selbständiger, praktischer Musikausübung erlahmte nach dem Kriege jedoch mehr und mehr und erlosch mit den Jahren
völlig. Die letzten Versuche auf seiner Flöte fielen in unsere Sinsheimer Zeit (1955–59). Später, in Mannheim, Stuttgart oder in Hemfurth am Edersee holte er die Flöte überhaupt nicht mehr hervor,
zumindest nicht in meinem Beisein. Vielleicht glaubte er, nicht mehr so glänzen zu können, wie er es sich wünschte, oder mit diesem Instrument verband sich zu viel für ihn, und es erinnerte ihn zu sehr
an verwehrte, unterdrückte Jugend, den Krieg und zu viele unerfüllte Hoffnungen.
Auch vor diesem freiwilligen Verzicht habe ich meinen Vater allerdings nie üben hören. Der feierliche Zusammenbau und die stets überfällige Wartung der Flöte, die zerlegt in dem
dunklen Samtbett eines schwarzen, nochmals von einer braunen Leinentasche ummantelten Futterals schlief und deren Metallteile stets Ansätze von Grünspan zeigten, bewiesen bereits so viel Kennertum und
Könnerschaft wie das Ölen der Klappengelenke oder das Nachziehen von Schräubchen mit einem winzigen Schraubenzieher, für den gar eine eigene Mulde in dem Behältnis vorgesehen war. Die schließlich folgenden
virtuosen Passagen, die noch in den Fingern verblieben waren, waren fast schon Beiwerk oder dienten mehr der gleichmäßigen Verteilung des Öls und dem Gängigmachen der Klappengelenke, als dass sie wahre
Spielfreude ausdrückten. Schnell verschwand die Flöte wieder in ihrem Futteral. Neben der Querflöte gab es auch eine einfache, aber sehr laute und hohe Querpfeife, deren Funktionstüchtigkeit noch seltener
erprobt wurde und die wohl dem Bereich der Militär- und Kapellenmusik zugehörte und in Spielmannszügen oder bei Platzkonzerten zum Einsatz gekommen sein mag. Ein gemeinsames Musizieren meiner beiden
Eltern ist mir nicht erinnerlich, ist aber zumindest in der Zeit ihrer Verlobung und den ersten Jahren ihrer Ehe doch wahrscheinlich. Ein gemeinsames Musizieren mit mir oder meiner Schwester, die gleich mir
einige Jahre Unterricht im Klavierspiel erhalten hatte, wurde nicht einmal ansatzweise versucht.
Doch hatte sich die musikalische Betätigung meines Vaters nicht allein auf das Flötenspiel beschränkt. Unter dem Eindruck einer Klassenfahrt nach Leipzig zu einer Aufführung der
»Meistersinger« war seine Liebe zur Musik und speziell zu Richard Wagner und zur Oper so hell entfacht, dass er selbst eine Oper mit dem Titel »Olaf« zu komponieren begann. Ich habe die Partitur des Werkes, das
er nicht zu Ende führte, früher mehrfach durchgeblättert, ohne mir über seine Qualität ein rechtes Urteil bilden zu können. Als ich es in späteren Jahren erneut hervorholte, fand ich es etwas einfältig mit
seinen mir allzu volksnahen »Hoch soll er leben«-Chören. Doch sollte weder die Entstehungszeit (die zweite Hälfte der dreißiger Jahre) noch das damalige Alter meines Vaters übersehen werden, und heute denke
ich, dass es doch eine außergewöhnliche, ja bewundernswerte Leistung des jungen Mannes war, sich hinzusetzen und etwas so Komplexes wie eine Oper niederzuschreiben, gleichgültig, wie unfertig,
traditionsgebunden und abhängig alles noch gewesen sein mochte. Von anderen kompositorischen Versuchen meines Vaters weiß ich nichts.
Mehrfach erzählte mein Vater von einer Aufführung der »Meistersinger«, die er im Kasseler Opernhaus einige Jahre später besucht hatte. Man wird sich vielleicht erinnern, dass am Ende
des zweiten Aufzugs im Anschluss an die »Prügelszene« ein Nachtwächter auftritt (»Hört, ihr Leut', und laßt euch sagen: die Glock' hat eilfe geschlagen« usw.). Dann geht nach einem Hornruf der
Vollmond auf und scheint in die Gasse, die der Nachtwächer hinabschreitet. Als er um eine Ecke biegt und verschwindet, fällt der Vorhang zu den letzten Klängen der Musik. Nun hatte man diesen
Mondaufgang wohl etwas zu sorglos geprobt, denn als in der abendlichen Aufführung der Mond in Erscheinung treten sollte, war die Mondscheibe, hinter der sich eine Glühbirne verbarg, unbemerkt von der Vorrichtung
in die Kulissen abgefallen. So stieg vor den Augen des erstaunten Publikums anstelle des Mondes nur eine einsam leuchtende Glühbirne am nächtlichen Bühnenhimmel empor und trug nicht wenig zur Entzauberung der
hochromantischen Szene bei.
Ich erlaube mir eine kleine Abschweifung, denn selten kann ich an das vorstehend Geschilderte denken, ohne dass nicht in meiner Erinnerung ein zweites Missgeschick der Opernbühne
wiederaufersteht. Eine amerikanische Sängerin, die dem Geschehen beigewohnt hatte, erzählte einmal davon, als die Rede auf dergleichen Vorfälle kam, und da ich keinen besseren Ort als den gegenwärtigen weiß,
sei die Episode hier eingerückt. Es handelte sich dabei freilich nicht nur um das Ende eines Aufzugs, sondern um das dramatische Finale, den Schluss- und Höhepunkt einer ganzen Oper. Wie man weiß oder
leicht nachlesen kann, stürzt sich Tosca in Puccinis gleichnamiger Oper nach Scarpias und Caravadossis gewaltsamem Tod schließlich von der Brüstung der Engelsburg und begeht Selbstmord, um ihren Verfolgern zu
entrinnen. Nun konnte die Sängerin der Tosca auf der Bühne dieses Geschehen natürlich nur zum Teil realistisch darstellen, und damit sie sich bei dem Sturz, der sie dem Blick des Publikums entzog, nicht verletze,
hatte man eine Art von Trampolin in die Kulissen gebaut, das den Sprung abfing. War seine Stellung bei der Aufführung etwas anders als bei den Proben oder hatte die Sängerin zu ihrem Sprung mehr Schwung als sonst
genommen – auf jeden Fall federte das Trampolin so stark, dass Tosca, soeben noch in Tod und Tiefe gestürzt, plötzlich wieder lebendig kurz nach oben kam und das Publikum ihrer erneut ansichtig
wurde. – Doch damit Scherz und Schadenfreude beiseite und zurück zu Richard dem Dreizehnten.
Eine mir vorliegende, 1931 erschienene Schrift von Ferdinand Pfohl mit dem Titel »Was weißt Du von Wagner?« stammt wohl noch aus der Zeit der frühen Verehrung Wagners meines Vaters.
Ihr plakathaft gemaltes Umschlagbild, ein riesiger flammendroter Bühnenvorhang vor einem tiefschwarzen Orchestergraben, aus dem ein Dirigent hervorragt, zeigt besser als viele Worte die Art des Mystizismus,
der sich damals um Wagner ausgebildet hatte. Wie solch ein Bild sich jungen Menschen, wie meinem Vater, in Verbindung mit der Erinnerung an einen ersten Opernbesuch einprägen musste, sei dahingestellt; doch
dass es sich hier schon um eine gezielt vereinnahmende, mehr dem Kult als der Kultur dienende Propagandaschrift handelte, die zumindest ebenso viel mit Politik wie mit Musik zu tun hatte, scheint
mir außer Frage zu stehen.
Auch andere »Wagneriana« sind auf mich überkommen. Wahrscheinlich noch von den Eltern meines Vaters stammen aus der Reihe »Musik für alle. Eine
Notensammlung zur Pflege guter Hausmusik« die Hefte über den »Lohengrin«, die »Walküre«, den »Siegfried« und die »Götterdämmerung«; darüber hinaus gibt es ein
Klavier-Album »Unser Wagner«, das wohl noch vor dem Ersten Weltkrieg erschienen ist. Sein Titelblatt trägt den handschriftlichen Besitzervermerk »Franz Trysna«, von dem
ich nie habe reden hören. Die Frage, ob es sich hier um denselben Franz Trysna handelt (der Name ist ja selten), von dem 1943 in Düsseldorf das Buch »Hölzerne
Hausdächer« erschien, bleibt vorerst offen.
Neben Wagner war es vor allem Richard Strauss, dessen virtuose Orchestermusik mein Vater schätzte. »Till Eulenspiegels lustige Streiche« und »Don Juan« gehörten
zusammen mit der mir immer etwas zu breitbeinigen Ouvertüre der »Meistersinger« und Smetanas »Moldau« (die Flöten beginnen das Werk) zu seinen klassischen
Lieblingsstücken, und ich vermute, dass er die Stücke in Kasseler Konzerten gehört, wenn nicht selbst mitgespielt hatte. Notenausgaben von Strauss-Werken sind mir
im Elternhaus indes nie zu Gesicht gekommen, vermutlich überstiegen aber die umfänglichen und somit teuren Partituren die finanziellen Möglichkeiten.
Mein Vater beabsichtigte jedenfalls eine Zeitlang, Musik zu studieren, und wenn vielleicht auch nicht Komponist, so doch wenigstens Dirigent zu werden, Pläne, die an
dem Einspruch seiner Mutter scheiterten. Sie, die Tochter eines Kasseler Hoteliers (»Hotel Maus«, in Bahnhofsnähe gelegen – im Krieg wurde das Gebäude zerstört –),
war bürgerlich, ja großbürgerlich aufgewachsen (man hatte die Eltern zu siezen), suchte Anerkennung und wollte »Staat machen« mit ihrem Sohn. Mit einem Künstler-Sohn,
einem Musikus, ließ sich wenig anfangen; man hätte sich leicht sogar der Lächerlichkeit preisgegeben, denn in Treysa wohnte man in einer engen, strengen Kleinstadt, später
in Schrecksbach auf dem Dorfe, und man wusste viel, oft zu viel voneinander. Mit großem Verständnis für die Künste war hier nicht zu rechnen, es sei denn, man hatte
Erfolg, wurde berühmt oder wenigstens reich, wurde Professor, Direktor einer Schule oder ähnlich Einflussreiches, wobei Dirigent natürlich schon ein Schritt in die richtige
Richtung gewesen wäre, denn man befand sich so sichtbar in einer überlegenen Position. Karl Henck, der Vater meines Vaters war »nur« staatlich geprüfter Dentist
gewesen, wie das damals hieß, Landzahnarzt, der mit einer Tretbohrmaschine begonnen hatte, keinen Doktortitel führte und sich jahrein, jahraus mit den ungeputzten
Zähnen der Bauern abrackerte, im Keller seines Hauses Gebisse, Brücken und Kronen selbst anfertigte, unter der Fuchtel seiner Frau stand und, wen wundert es, allzu gerne
im Verborgenen ein Gläschen trank. Die Aussicht jedoch, an Stelle eines latenten Alkoholikers einen echten Mediziner, einen Arzt, ja Akademiker in der Familie zu
haben, verhieß dagegen Ansehen und Sicherheit sowie kostenlosen Beistand bei jedem Wehwehchen. Ärzte brauchte man immer, und der Ausbruch des Krieges überhob
sicher der letzten Zweifel an der Richtigkeit solcher Berufswahl, denn die deutsche Ärzteschaft sah sich nun vor die national verhängte Aufgabe gestellt, Gesundheit zu
erhalten und zu stählen, oder die kriegsbedingt eingebüßte wiederherzustellen, die Befähigung des deutschen Mannes zum Dienst an Führer, Volk und Vaterland zu
bescheinigen und Drückebergern das Handwerk zu legen, kurz: die Wehrkraft bis an die Grenzen des Vertretbaren und womöglich noch ein gerüttelt Maß darüber hinaus zu steigern; man war nicht zimperlich.
So begann mein Vater sein Studium der Medizin in Marburg an der Lahn, erwarb sich standesgemäße Trinkfestigkeit in den »Kneipen« der Burschenschaft Arminia, deren
»Zirkel« er auch später noch aus dem Gedächtnis zeichnen konnte, und beteiligte sich an allerlei studentischen Streichen, ohne es aber zugleich an Fleiß und Ehrgeiz mangeln
zu lassen. Zwischenzeitlich wurde er zur militärischen Grundausbildung einberufen und zum Arbeitsdienst mit dem Spaten an der Autobahn herangezogen, wie er vormals als
Schüler zur Erntehilfe verschickt worden war. Schließlich erhielt er seinen Gestellungsbefehl und kam an die Ostfront. Als Kind sah ich mehrfach 8-mm-Filme,
die er mit einer kleinen federwerkbetriebenen Kamera in Russland aufgenommen hatte. Junge Soldaten mit langen schwarzen Uniformmänteln stapfen im Schnee, klirrende
Kälte, jeder Atemzug ist sichtbar; alle bewegen sich etwas zu schnell. Schneidig und gutgelaunt, doch zugleich auch etwas verlegen grüßen sie, gegen die Sonne
blinzelnd, in die Kamera. Und oben aus der Panzerluke schauend sich selbst filmend in Großaufnahme das Gesicht meines Vaters mit runder Nickelbrille und einer Mütze mit
heruntergeklappten Ohrenschützern. Oder waren es Kopfhörer? Es sind mehrere Jahrzehnte vergangen, seit ich diesen Film zuletzt sah, und meine Erinnerungen verblassen.
Wiederholt berichtete mein Vater von dem berühmten »Kessel von Demjansk«, aus dem er ausgeflogen worden war, ein Ereignis, das in die ersten Monate des Jahres
1942 – er war einundzwanzig – gefallen sein muss. Vielleicht hatte er es zum Teil seinem begonnenen Medizinstudium zu danken, dass er im Sanitätsbereich,
in Lazaretten etwas abseits der Front, arbeiteten konnte und daher unverletzt blieb. Aber sein Studienfreund Horst Wittneben, Sohn seines späteren Chefs an den
Anstalten Hephata, hatte weniger Glück; er trat auf eine vergrabene Mine und wurde zerrissen.
Mein Vater wurde zum Panzerfahrer ausgebildet, eine Sache, die ihm offenbar auch einiges Vergnügen bereitete. Einer Begabung zum Erfinden folgend – sie erbrachte ihm
später zumindest eine Patenturkunde für eine sogenannte Färbebrücke, ein Hilfsgerät in medizinisch-diagnostischen Laboratorien – entwickelte er im Felde eine kleine
Verbesserung der Visiereinrichtung, die dann serienmäßig in Panzer eingebaut worden sein soll. Aber auch wenn er physisch verschont blieb, sah und erlebte er doch Dinge,
die selbst den angehenden Mediziner, dem seine Vorlesungen in Pathologie und Anatomie so manches Grausige schon gezeigt hatten, nicht unberührt lassen konnten.
Ich kannte alles nur aus Filmen und Büchern, von Fotographien oder mündlichen Erzählungen. »Nie wieder Krieg!« hatte uns in den sechziger Jahren ein weißhaariger
Mannheimer Gymnasiallehrer, der sich noch immer um sein verlorenes Haus grämte, einmal groß in unsere Mathematikhefte schreiben lassen, und ein als Religionslehrer
tätiger Pfarrer hatte von dem unvergesslichen Anblick berichtet, wie in der Mannheimer Innenstadt der Flügel einer musikliebenden jüdischen Familie von Nazis hoch oben aus
dem Fenster geworfen wurde und auf dem Pflaster zerschellte. An konkret sichtbaren Folgen gab es allenfalls noch den Treysaer Kriegerfriedhof, über den ich als Kind
manchmal streifte (gelangweilt von seinen uniformen Gräbern, alle anderen waren interessanter), die vereinzelten mit Brettern vernagelten Ruinengrundstücke in der
Mannheimer oder später der Kölner Innenstadt und gelegentlich die Löschwasser-Spuren in den von mir entliehenen Büchern aus den öffentlichen Bibliotheken. Als
Kind und selbst als Schüler hatte ich noch häufiger Männer gesehen, die einen Jackenärmel oder ein Hosenbein nach oben umgeschlagen und mit einer Schließnadel
befestigt trugen, weil ihnen ein Arm oder Bein fehlte, oder solche, die mit einer hässlichen, kaum vom Schmiss einer Mensur herrührenden Gesichtsnarbe gezeichnet
waren. Doch sie alle verschwanden nach und nach aus dem Straßenbild.
Dagegen hatte mein Vater die unfassbaren Schrecken mit eigenen Augen gesehen – die Getöteten, Verwundeten, Verstümmelten, Verkohlten, Geblendeten, Erstickten,
Siechenden und Sterbenden; Menschen, die so entsetzlich verbrannt waren, dass man sie, wie er erzählte, nur noch in Badewannen, in Öl liegend, transportieren konnte. Und
dann die Menschen, die seelisch litten, die zwar Leib und Leben hatten retten können, dafür aber die Liebsten, Kinder, Angehörige, Freunde, Nachbarn, Hab und Gut und
nicht zuletzt das Werk ihrer Hände auf immer verloren hatten und buchstäblich vor dem Nichts standen. So erlebte er den Untergang eines Systems und einer Regierung, die,
für viele glaubhaft, mit dem Ziel des Aufbaus eines neuen, besseren Deutschlands angetreten war, die aber sofort, nachdem sie an die Macht gekommen war, ihren Sinn
nur noch aus der Unterdrückung, ja Vernichtung anderer Völker und der Terrorisierung des eigenen Volkes zog, Menschen zu Bestien machte und für die Welt dann zum
Albtraum wurde. Auch dieses Erwachen und Erkennen, man habe sich entsetzlich getäuscht in den großmäuligen »Machtergreifern«, habe die vorhandenen Zeichen in
einer Mischung aus kollektiver Angst, Feigheit, Gutgläubigkeit, Eitelkeit und Bequemlichkeit verdrängt und so letztlich selbst, wenn auch nur durch das eigene
Nichtstun, zum Untergang beigetragen, mussten bittere Erfahrungen gewesen sein, die sich wie alles andere Leid kaum in Worte fassen lassen.
Ich habe mich später oft gefragt, wie mein Vater mit all dem, was er sah an Bildern des Grauens, zu leben imstande war. Hätte ich ihn direkt gefragt, wäre er mir
wahrscheinlich ausgewichen oder hätte nur geantwortet, dass ein Arzt sich auch an Anblicke der schlimmsten Art gewöhnen müsse, um helfen zu können. Ein Arzt muss
Ekel aushalten, muss Blut sehen können, muss, um Leben zu retten, gelernt haben, auch vor dem Ärgsten nicht die Augen zu verschließen, muss schlimmste körperliche und
seelische Wunden und Qual versachlichen können, um sie zu behandeln. Doch dass das Erlebte, seine Vergangenheit, ihn bei aller ständischen Kühle dennoch nicht los ließ,
dass das Verdrängte arbeitete und zur Sprache kommen wollte, zeigte seine Lektüre. Als er in seinen vierziger Jahren stand, entlieh er sich die inzwischen gedruckten
Protokolle des »Nürnberger Prozesses« aus der Anstaltsbücherei des Mannheimer Gefängnisses und las und las zu mitternächtlicher Stunde, über Monate, ich glaube
sogar über mehrere Jahre hinweg, über zwanzig gewaltige Bände, einen Band nach dem andern, Tausende von Seiten, von vorne bis hinten. Wie eine Bußarbeit hatte er es
sich auferlegt, alles noch einmal lebendig werden zu lassen. Ergänzend las er Eugen Kogons »SS-Staat« oder Kurt Zentners »Illustrierte Geschichte des Zweiten
Weltkriegs«, las Biographisches und Psychoanalytisches über Hitler und wohl noch manches andere Buch, an das ich mich nicht mehr erinnere. Er versuchte, die
Vergangenheit, das Geschehene zu begreifen, die weltbewegenden, historischen Ereignisse ebenso wie die mit ihnen schicksalhaft verketteten eigenen Erlebnisse, um als
Opfer und Täter, Kläger und Angeklagter, Verteidiger, Sachverständiger und Zeuge in einem schließlich selbst auch ein Urteil fällen zu können.
An Notenausgaben hatte mein Vater einen ganzen Stapel Flötenliteratur, doch weiß ich keine Einzelheiten mehr, außer dass sich zwei ziemlich alte Plattendrucke darunter
befanden, bei denen man in dem groben Papier noch die Vertiefung des Druckstockes sehen und fühlen konnte. Auch an Noten von Friedrich dem Großen kann ich mich
erinnern. Einige Stücke aus seinem Notenbestand, darunter die Eulenburg-Partituren von Brahms’ Dritter Symphonie und Beethovens »Serenade« op. 25 für Flöte, Violine
und Viola sowie des Komponisten eigene Fassung für Flöte und Klavier befinden sich heute in meinem Besitz.
Mehrere Musikbücher und Notenhefte, die sich mein Vater im Zusammenhang mit seinen Studienplänen angeschafft haben mag oder die man ihm in Kenntnis seines
Interesses geschenkt hatte, hatte er mir indes schon frühzeitig zum Gebrauch überlassen. Als ich dann Musik studierte, war es klar, dass ich sie behalten konnte. Eine
Ausnahme bildete das großformatige Pamphlet »Entartete Musik«, das ähnlich wie zwei schwere blaue Leinenbände über die Berliner Olympiade 1936, ein von
Hakenkreuzen, Paraden, Aufmärschen, Massenkundgebungen, Feiern, Fahnen und Führerposen strotzender Bildband über die deutschen Errungenschaften oder das
grässliche Reemtsma-Cigaretten-Bilderdienst-Album »Raubstaat England« mit der den Globus umkrallenden Klaue auf dem Umschlag zu den ganz persönlichen,
unveräußerlichen Erinnerungsstücken aus dem Dritten Reich gehörte. Zwar las er nicht darin, doch nahm er (teilweise zu Recht) an, dass sie »noch einmal wertvoll« würden,
zumal man sie vor dem Zugriff der nach »Nazi-Souvenirs« lüsternen amerikanischen Besatzung gerettet hatte. Auf die Mitnahme anderer Musikbücher, wie Zdenko von
Krafts Wagner-Roman »Welt und Wahn«, die Dumoulin-Biographie über Cosima Wagner (zumindest letztere stammte aus dem Besitz seiner Eltern) oder den mich als
Heranwachsenden schließlich zu Tränen rührenden Liszt-Roman »Ungarische Rhapsodie« von Zsolt Harsanyi verzichtete ich später aus Desinteresse.
Zwar weiß ich bei mehreren Büchern aus meinem Elternhaus nicht mehr, ob ich sie aus väterlichem, mütterlichem oder großmütterlichem Vorbesitz habe; auf Grund der
handschriftlichen Namenszüge kann ich jedoch mit Sicherheit sagen, dass Hans Joachim Mosers, noch zu meiner Studienzeit benutztes und seines Einbandes wegen als
»gelbe Gefahr« tituliertes »Lehrbuch der Musikgeschichte« (1936) sowie Pfitzners »Über musikalische Inspiration« (1940) einst meinem Vater gehörten. Den ersten Titel erwarb er 1937, den zweiten 1942.
Bücher musikalischen Inhalts schenkte mir mein Vater auch in späteren Jahren noch gelegentlich, wobei er sich zumeist auf die ihn periodisch erreichenden Listen moderner
Antiquariate stützte. Manchmal fand er auch etwas in Buchhandlungen während der Mittagspausen der Gerichtsverhandlungen, denen er in Mannheim und Stuttgart
häufiger als psychiatrischer Sachverständiger beizuwohnen hatte. Albert Welleks »Musikpsychologie«, Peter Gradenwitz’ »Orient und Okzident« oder Josef Wulfs
fünfbändige Dokumentation »Kultur im Dritten Reich« gehörten hierzu. Auch die zwei Bände von Dieter Kerners »Krankheiten großer Musiker«, die er von einer
pharmazeutischen Firma als Werbepräsent erhalten hatte, reichte er an mich weiter. Oft konnte ich diesen Büchern zunächst wenig abgewinnen, da sie sich nicht auf meine
aktuellen Interessen bezogen; später lernte ich sie jedoch schätzen und bemerkte, dass in ihnen wichtige Forschungsergebnisse festgehalten waren.
Klavier spielen konnte mein Vater ebenfalls, auch wenn sich sein Repertoire hauptsächlich auf ein kurzes Stück Unterhaltungs- oder Tanzmusik beschränkte,
welches sich vornehmlich auf den schwarzen Tasten abspielte und schon durch diesen Umstand imponierte. Ich habe die Musik noch heute im Ohr und könnte sie jederzeit
vorspielen, war aber nie in der Lage, sie zu identifizieren.
Neben Maser wurden in Gesprächen immer wieder einmal die Dirigenten Robert Heger und Robert Laugs erwähnt, ohne dass näher auf sie eingegangen wurde.
Ende der dreißiger Jahre war Heger musikalischer Leiter der Oper, Laugs war Staatskapellmeister und Generalmusikdirektor in Kassel, und beiden verdankte das
Musikleben seinerzeit wichtige Impulse. Bei Richard Laugs, dem Sohn von Robert Laugs, der Direktor des Mannheimer Konservatoriums wurde, spielte ich im Herbst
1959 vor, um in das dortige Konservatorium aufgenommen zu werden. Ihm verdanke ich es, Schüler der Pianistin Doris Rothmund (einer Schülerin Walter Giesekings)
geworden zu sein. Später hörte ich Richard Laugs mehrfach in Konzerten im Mannheimer »Rosengarten« oder in der Städtischen Kunsthalle gleich neben meinem
Gymnasium und bewunderte sein Klavierspiel sehr. Er verfügte über ein gigantisches Repertoire und führte zyklisch alle Schubert-Sonaten, das gesamte Klavierwerk von
Brahms und einen Großteil, wenn nicht alle Beethoven- und Mozart-Sonaten auswendig auf und schreckte auch vor Liszts Mephistowalzer nicht zurück. Trotz dieser
durchaus nicht alltäglichen Leistungen konnte er seinen Ruf meines Wissens kaum über den Mannheimer Raum hinaus ausdehnen. Doris Rothmund, die einmal seine Schülerin
gewesen war, bemängelte indessen oft Gedächtnislücken, die ihn im Konzert immer wieder zu gewagten Sprüngen und Kürzungen des Notentextes gezwungen hätten, was
mir und wohl den meisten anderen im Publikum, die wir die Stücke weniger gut kannten, entgangen war. Auch Laugs’ Namen fand ich in Zeitschriften zu Anfang der
dreißiger Jahre erwähnt, als er in Berlin lebte und als Assistent von Artur Schnabel arbeitete.
Eine kurze Begebenheit möchte ich anfügen, da sie unmittelbar mit Klängen der Vergangenheit zu tun hat. Denn noch heute besitze ich die vier Klangstäbe, die einst
zum Schlagwerk einer hohen, etwas düsteren Standuhr aus dem Besitz meiner Großeltern gehörten. Da sie irgendwann nicht mehr funktionierte und sich vielleicht
auch nicht mehr reparieren ließ, hatte mein Vater das Uhrwerk erneuert und, seiner Gewohnheit gemäß, alle ausgedienten Einzelteile aufbewahrt. Die Klangstäbe mit dem
zugehörigen Hammerwerk schenkte er mir jedoch, als wir bei der Suche nach Anderem einmal auf sie stießen und ich mein Gefallen an ihnen äußerte. Später baute
ich diese Klänge in eine kleine Gelegenheitskomposition ein, welche ich »Metallspiele« nannte und an anderer Stelle ausführlicher beschrieben habe.
Doch nicht von dieser Standuhr, sondern von einer anderen, kleineren und wohl auch älteren Uhr des Großvaters soll hier noch die Rede sein, einer solchen, wie man
sie früher in bürgerlichen Salons gerne auf Konsolen, Vertikos oder Kommoden platzierte. Für Karl Henck war sie ein Erinnerungsstück aus England, wo er im Ersten
Weltkrieg längere Zeit in einem Internierungslager auf der Isle of Man verbracht hatte – ein Umstand, dem er vielleicht sein Leben verdankte. Auf Grund seiner Ausbildung und
englischen Sprachkenntnisse war er hier bereits als Zahnarzt tätig geworden und hatte Zuneigung zu den Briten und der ihnen eigentümlichen Lebensart entwickelt. Die Uhr,
die bald kaputtging, besaß ein schönes dunkelbraun gebeiztes Holzgehäuse, klassisch streng und ohne Zierrat, und schlug zu jeder Viertelstunde: erst vier, dann acht, dann
zwölf, und schließlich alle sechzehn Töne der Melodie des berühmten Glockenspiels von Westminster, worauf zur vollen Stunde eine entsprechende Anzahl vierstimmiger
Akkorde folgte. Das Zifferblatt lag hinter einem gläsernen Türchen, das man zum Aufziehen der Federwerke von Uhr und Glockenspiel öffnen konnte, und die
Rückwand war mit einem stoffbespannten Türchen versehen, um die Klänge besser aus dem Gehäuse zu entlassen. Hier war auch der gesamte Mechanismus sichtbar und
Wartungen zugänglich. Kam es zum viertelstündlichen Glockenschlag, begann es in dem Räderwerk verheißungsvoll zu summen und zu schnurren, und dann holten die
lederbezogenen Hämmerchen einer nach dem anderen aus und klopften an die Metallstäbe. Diese steckten in einem schweren eisernen Sockel, der ihre Schwingungen
auf das Gehäuse übertrug. Es war ein reiner, voller und doch silberheller Klang, der nichts mehr von der Wucht und Geschichtsträchtigkeit des Londoner Vorbilds hatte.
Diese Uhr war noch zu Lebzeiten von Karl Henck, warum und wann auch immer, an meinen Vater gekommen und war am Boden eines Kleiderschranks abgestellt worden,
wo sie allmählich in Vergessenheit geriet. Doch in der Nacht im Jahre 1955, als Karl Henck starb, soll diese Uhr, die schon lange nicht mehr aufgezogen worden war,
plötzlich angeschlagen haben. Und da es zu töricht wäre, eine solche Geschichte ohne Not zu erfinden, denke ich, dass ihr ein wahrer Kern innewohnt; die Deutung der
Ereignisse sei natürlich dahingestellt.
Drittes Kapitel Meine Mutter
Irmgard Maria Elisabeth Franziska Henck; ihr Mädchennamen lautete Christel. Sie wurde am 26. Januar 1925 in Treysa geboren und starb am 20. Februar 1966
in Mannheim. Auch sie hatte keine Geschwister. Ihr Vater war Karl Christel (1899–1983), Wirt der Bahnhofsgaststätte in Treysa in zweiter Generation; sein Vater,
ebenfalls Karl mit Vornamen, war unter anderem Kellner im Londoner Crystal Palace gewesen, wo er einmal den Schah von Persien so vorbildlich bedient haben soll, dass
dieser ihm eine Krawattennadel mit Diamant schenkte. (Da für englische Ohren „Christel“ und „Crystal“ einen ähnlichen Klang haben, hätte man die Begriffe leicht
vertauschen und übersetzen können: „Christel-Palast“ oder „Karl Kristall“.) Er ging gerne zur Jagd. Die Mutter meiner Mutter hieß Änne Christel, geborene Linker. Sie
lebte von 1904 bis 1951. Ihre Eltern waren Valentin und Elisabeth Linker; Valentin von Beruf Schmied, anfangs auch Hufschmied; später stellte er seine Werkstatt auf Autos
um und baute eine Tankstelle. Beide Urgroßeltern, an die ich mich noch gut erinnern kann, verstarben in den fünfziger Jahren in hohem Alter.
Vergleiche ich, wie viele Bücher und Notendrucke ich jedem Elternteil verdanke, überwiegt das aus dem Besitz meiner Mutter Stammende erheblich. Auch wenn man
jene Flötennoten meines Vaters hinzunimmt, die nicht wie die meisten anderen Notenbestände in meinen Besitz übergegangen sind, hatte meine Mutter eine ungleich
größere Anzahl von Musikalien angeschafft. Manches darunter mag ihr auch von ihrem Vater geschenkt worden sein, der gelegentlich nach Kassel fuhr und ihr dann das ein
oder andere mitbrachte. (In Treysa war dergleichen natürlich nicht erhältlich.) Sein Lieblingslied war jedenfalls das anrührende »Ännchen von Tharau«, das Friedrich
Silcher später vertont hatte, wobei ich nicht ausschließen möchte, dass der Vorname seiner ersten Frau Änne eine gewisse Rolle bei dieser Wahl gespielt haben mag.
Auch von meiner Mutter habe ich Schriften über Richard Wagner, so zum einen Eugen Schmitz’ Buch »Richard Wagner«, auf dessen Rückseite des Titelblatts handschriftlich
»Irmgard Christel, Treysa« steht und über dessen Vorwort sie mit Bleistift geschrieben hat: »Was deutsches Land heißt, stelle Kämpferscharen – Dann schmähet niemand
mehr das Deutsche Reich!« Hier handelt es sich um ein unwesentlich abgewandeltes Zitat vom Beginn des »Lohengrin«, das meine Mutter vermutlich Curt Zimmermanns
Broschüre »Richard Wagner, Leben und Werk« von 1941 entnahm, die ihr ebenfalls gehörte. Ich war ziemlich überrascht, als ich diesen Eintrag zum ersten Mal las, denn
ich habe meine Mutter kaum einmal ein Wort äußern hören, das sich konkret politisch, geschweige denn propagandistisch hätte deuten lassen. (Beide meine Eltern waren mit
allen Äußerungen, die die Politik betrafen, geradezu schamhaft verschwiegen, und der Begriff der »Partei« war offenbar noch so stark von den Erfahrungen des Dritten
Reichs belastet, dass sie lebenslang ein Hehl daraus machten, wem sie bei Wahlen ihre Stimme gegeben hatten und nur in Andeutungen darüber sprachen.) Ein weiterer
Druck, der unter anderem von Wagner handelte und den meine Mutter mit »2. Febr. 1941« datierte, war das Buch »Deutsche Meister« von Peter Raabe, dem 1935
ernannten Nachfolger von Richard Strauss im Amt des Präsidenten der Reichsmusikammer.
Am deutlichsten lassen drei Notenhefte, in die sie Übungsaufgaben eintrug, sowie ein Oktavheftchen die Absicht erkennen, sich später vielleicht beruflich, wohl
als Klavierlehrerin der Musik zuzuwenden. Eigentlich sind es nur zwei Notenhefte, denn von dem dritten ist nur der Umschlag mit dem Titelschildchen »Irmgard Christel.
Konservatorium« übrig. Die beiden anderen Hefte tragen beide neben ihrem Namen die Aufschrift »Harmonielehre«. Das erste zeigt Datierungen zwischen dem 28. August
1941 und dem 13. Januar 1942, das zweite zwischen dem 17. Februar und dem 21. April 1942, das Oktavheftchen den 16. Februar 1943 (hiervon unten). Als Kind übte
ich auf einer freien Seite des zweiten Notenheftes, vermutlich in Ermangelung eines eigenen, das Notenschreiben und fügte meinen Namen auf dem Umschlag hinzu.
Meine Mutter ging somit wohl zumindest in den Jahren 1941/42, vielleicht noch bis ins Jahr 1943 auf das erst im Herbst 1939 gegründete Kasseler Konservatorium zum
Unterricht, wohin sie von Treysa aus stets mit der Bahn fuhr – sie wohnte ja im Bahnhof. Dieser Zeitpunkt wird durch die wenigen Datierungen in ihren
Musikbüchern und Noten bestätigt, die zwischen dem 7. November 1940, als sie noch nicht ganz sechzehn Jahre alt war, und dem 2. Juli 1941 liegen. Ganz unbedenklich
waren diese Fahrten nach Kassel sicher nicht, denn man war im Krieg, und Züge wie Bahnstrecken galten als strategisch bevorzugte Ziele von Tiefflieger-Angriffen. Im Juli
1940 hatte es schon einen ersten Bombenangriff auf den Kassel-Waldauer Flugplatz gegeben, im September des Jahres darauf auf Kassel den ersten Großangriff.
Neben den genannten Notenheften hat sich auch ein umschlagloses Oktavheftchen erhalten, dessen vierunddreißig Seiten sämtlich von meiner Mutter in ihrer rundlichen
deutschen Schrift erst mit Bleistift, dann mit Tinte beschrieben sind. Als Überschrift oder Randnotiz fügte sie in die Kopfzeile der ersten Seite ein »Artikel: Neue Bahnen«,
womit jener Aufsatz »Neue Bahnen« in der Leipziger »Neuen Zeitschrift für Musik« vom 28. Oktober 1853 gemeint sein müsste, mit dem Robert Schumann den jungen
Brahms der Musikwelt als neu aufsteigenden Stern am Komponistenhimmel vorstellte. Brahms steht im Folgenden fast immer im Mittelpunkt, wobei biographische
Stichwörter, Werkübersichten, Erklärungen von Fremdwörtern oder mythologischen Figuren, gelegentlich Zeilen aus vertonten Gedichten und anderes zusammengetragen oder exzerpiert wurden.
Manche Informationen wiederholen sich mehrfach, was sich als Hinweis auf häufigere Unterbrechungen deuten lässt. Josef Joachims Name ist zweimal mit dem
eingeklammerten Vermerk »Jude!« versehen, und auch sonst werden rassische Merkmale der Komponisten festgehalten. An zwei Stellen finden sich Datierungen: »26.
I. 43« (Irmgards 18. Geburtstag) und »16. II. 43«, Tage düsterster deutscher Geschichte – darunter die Monate der »totalen Mobilmachung«, des Untergangs der 6.
Armee, der Kapitulation von Stalingrad, der Ausrufung des »totalen Kriegs« durch Goebbels im Berliner Sportpalast.
Und dann sind da noch jene »5 Clavierstücke« von Schubert, die mein Vater Helmut seiner Braut Irmgard mit einer Widmung versehen zum Weihnachtsfest 1943 schenkte.
Das Paar trug seit dem Osterfest dieses Jahres die Verlobungsringe mit der Namensgravur des Partners, mein Vater, Sanitäts-Unteroffizier in einer
Studenten-Kompagnie, war an der Front gewesen und setzte sein Studium in Marburg fort, wo in seiner Abwesenheit ein Blindgänger mitten durch seinen Schreibtisch
geschlagen war. Für sie beide, die in Kassel ihre gemeinsame musikalische Heimat hatten, in der auch Freunde und selbst einige Verwandte lebten, wo das stattfand, an
dem man sich lieber orientierte und bildete als an dem Geschehen in der großen, fernen Reichshauptstadt Berlin, muss dies ein sehr bedrückendes Christfest gewesen sein,
denn Kassel war zwei Monate zuvor, am 22. Oktober 1943, einem Freitag-Abend, mit über vierhunderttausend Bomben – die genaue Zahl ist von britischer Seite verbürgt
– vernichtet worden. Der Begriff des »Christbaums«, wie man zu den Leuchtbomben sagte, hatte einen makabren Nebensinn erhalten. »Kassel ist nicht mehr«, notierte ein
Luftwaffenhelfer, der am nächsten Tag durch die rauchenden Trümmer der Stadt ging, in sein Tagebuch. An die zehntausend Menschen waren bei dem Luftangriff ums Leben
gekommen, und man hatte den Feuerschein des Infernos, das in weniger als einer Dreiviertelstunde entfacht und nach sieben Tagen noch immer nicht ganz gelöscht war,
bis in eine Entfernung von einhundert Kilometern beobachtet. Auch in Treysa, erzählte man mir schon als Kind, war, »als Kassel brannte«, der gespenstisch rote Schein im
Nordosten in Richtung Allendorf und Fritzlar am Nachthimmel zu sehen gewesen.
Dass nun auch alle Hoffnungen begraben werden konnten, weiterhin nach Kassel zu fahren und den bereits im Krieg aufgenommenen Musikunterricht fortzusetzen,
versteht sich von selbst. Darüber hinaus gab es Unmengen von Arbeit zu Hause. Die Züge, sofern sie noch fuhren, und die Bahnhöfe, sofern sie noch standen, wurden von
abertausenden Obdachloser und Flüchtender übervölkert, so dass in der Bahnhofsgaststätte meines Großvaters Karl Christel jede helfende Hand dringend
benötigt wurde und an Harmonielehre, Tonsatz, Klavier- und Flötenspiel vorerst nicht zu denken war. Ein vom Deutschen Sängerbund herausgegebenes Liederbuch für
Frauenchor, das meine Mutter aus dem Konservatorium entliehen hatte – es trägt fünf Stempel der Einrichtung –, blieb in ihrem Besitz und liegt heute vor mir. Wem hätte sie
es zurückgeben sollen? Gab es noch die Bibliothek, der es gehörte, lebte noch jemand, der es hätte zurücknehmen können, gab es noch ein »Konservatorium und
Musikseminar der Stadt Kassel«, ja gab es überhaupt noch eine »Kölnische Straße«, in der diese einst als Nr. 36 gestanden hatten? 1944 heirateten meine Eltern, und mein
Vater reichte seine Doktorarbeit ein; ihr Thema, das auf etwa 30 Blättern behandelt wurde, war »Muskelphysiologische Untersuchungen über die Wirkung des
Thermothyrins«. Ende 1944 wurde meine Mutter schwanger, im Juli 1945, der Krieg war erst elf Wochen vorbei, kam meine Schwester Edith zur Welt.
In Treysa selbst war nur eine einzige Bombe gefallen, deren Abwurf man zwar beobachtet hatte, die aber nicht detoniert war. Da man den Blindgänger auch nach
langer Suche nicht finden konnte, wusste man sich schließlich keinen anderen Rat, als einen Hellseher zu befragen. Dieser nahm sich der Sache an, ließ sich Landkarten
zeigen, verglich, was Augenzeugen sagten, und erklärte dann wirklich hellsichtig, man solle in der Schwalm, in dem durch Treysa ziehenden Flüsschen, suchen. Man wurde fündig.
Meine Mutter hatte bei Otto Kuwilsky ihren ersten Klavierunterricht bekommen, und vermutlich war er es gewesen, der sie bewogen hatte, zur Fortbildung nach Kassel ans
dortige Konservatorium zu gehen. Kuwilsky unterrichtete seit Mitte der zwanziger Jahre als Musiklehrer an der Volksschule in Treysa und wechselte in den fünfziger
Jahren an die dortige Oberschule, die heutige Schwalmschule. Er baute ein Laienorchester (Collegium musicum) und einen Chor auf, mit denen er 1954 gar J. S.
Bachs Johannes-Passion zur Aufführung brachte. Heute erinnert in einem Neubauviertel von Treysa eine Straße an Otto Kuwilskys Wirken. Sie führt im Halbrund beidseitig
auf die Ernst-Hohmeyer-Straße, die nach dem beliebten Nachkriegsbürgermeister benannt ist, an den selbst ich mich aus Kindertagen noch erinnere und mit dessen
Tochter Annemarie meine Schwester einst befreundet war (der Sohn wurde später Mitarbeiter beim Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«). Die Alfred-Giebel-Straße
verläuft zwischen beiden zum Andenken an jenen viele Jahrzehnte in Treysa tätigen Pfarrer, der meine Mutter taufte, konfirmierte und schließlich auch zur letzten Ruhe geleitete.
Einer der Kasseler Lehrer meiner Mutter war der Staatliche Musikdirektor Karl Hallwachs, der zugleich am Konservatorium arbeitete, vermutlich ein Verwandter,
vielleicht der Großvater oder Urgroßvater des später im Fernsehen häufiger zu sehenden Schauspielers Hans-Peter Hallwachs. Die physiognomische Ähnlichkeit ist,
wie ich finde, deutlich. Karl Hallwachs war ursprünglich Dirigent und Komponist gewesen und hatte dem engeren Kreis um Stefan George angehört, während seine
Vorfahren mit Goethe verkehrten. Hallwachs muss, als meine Mutter Unterricht bei ihm erhielt, schon in höherem Alter gestanden haben, denn er wurde 1868 in Darmstadt
geboren und starb im August 1959, im einundneunzigsten Lebensjahr, in Kassel. Nach dem Krieg wohnte er, wie ich erst durch ein Telefonat im März 2006 erfuhr, eine
Zeitlang auch in Treysa, da er vielleicht in Kassel ausgebombt worden war. Einmal besuchte er sogar unsere Familie; aber wann genau das war, weiß ich nicht anzugeben,
und mich an ihn erinnern kann ich auch nicht. Es gab aber ein Gästebuch, in das er sich eingetragen und seine Worte durch einige Noten illustriert hatte. Ich blätterte manches
Mal in dem schweinsledernen Band, der in den siebziger Jahren unter ungeklärten Umständen verloren ging. Der Name Karl Hallwachs, der mir später in einigen älteren
Musiklexika begegnete, stand jedenfalls in allerhöchsten Ehren, und man entsann sich gut der Auszeichnung, die sein Besuch bedeutet hatte.
Ein anderes, jedoch auch heute noch vorhandenes Gästebuch, in dem sich Karl Hallwachs ebenfalls eintrug, soll bei dieser Gelegenheit erwähnt werden. Es ist das
Gästebuch des einst in der Treysaer Burggasse gelegenen »Hotels zur Burg«, das vormals »Hainer Hof« hieß, da Grundstück und Gebäude ursprünglich dem Kloster
Haina bei Frankenberg gehörten. Dieses Buch jedoch enthält nicht nur den doppelseitigen, nach Schwälmer Art in kräftigen, bunten Farben mit vielerlei Blüten,
Blumen, Ranken, Schmetterlingen, Vögeln und Herzen von H. Kissel umrahmten Eintrag zu Karl Hallwachs’ achtzigstem Geburtstag am 15. September 1948, sondern
gleichermaßen auch Worte des Dankes meiner Eltern, ein Gedicht und Zeichnungen von Fritz Henck, dem »Onkel Fritz«, sowie selbst noch Unterschriften von meiner
Schwester und mir, als wir im August 1956 von Sinsheim aus nach Treysa fuhren, die Ferien in der alten Heimat verbrachten und im Hotel zur Burg wohnten. Hans-Joachim
Petri (»Jochen«), der Sohn des früheren Hotelbesitzers Franz Petri, machte mir die Freude, all diese Seiten einzuscannen und mir die Bilder im Oktober 2008 auf einer
CD-ROM zu schicken, Dinge, die über ein halbes Jahrhundert zurückliegen, von denen ich entweder gar nichts wusste oder die mir ansonsten unweigerlich und
unwiederbringlich entfallen wären. Zu Karl Hallwachs sei noch angemerkt, dass er auch in diesem Gästebuch der Petris Noten festhielt, und zwar das Lied »Die Landschaft der
Schwalm« aus seinem Zyklus »Bilder der Schwalm« für Singstimmen und Orchester Op. 56, »geschrieben 1945 im Hainer Hof«.
Damit zurück zu meiner Mutter. Unser Klavier war von dem Vater meiner Mutter etwa 1937 oder 1938 in Kassel erworben worden. Es war ein Fabrikat der dort ansässigen
Firma Carl Scheel und war im Pianohaus Neumeyer gekauft. Dieses Klavier wurde jenes, auf dem ich Klavier spielen lernte. Ich verschenkte es in Stuttgart Anfang der
siebziger Jahre an Nachbarn, da ich für das inzwischen völlig abgenutzte und dringend reparaturbedürftige Instrument kein Geld mehr nehmen wollte und ein Transport in
meine Kölner Wohnung zu teuer war. Fast alle Teile der Mechanik, besonders die Hämmer, waren in hohem Maße abgespielt, und die Messingzunge des Fortepedals
war durch die jahrzehntelange Reibung am Leder der Schuhe um ein gutes Stück verkürzt. Am schönsten war noch das haselnussbraune Holzfurnier. Zu meinem großen
Bedauern reichte das Instrument nur bis zum viergestrichenen A, was mir erstmals bei Brahms’ zweitem Klavierkonzert, in dessen langsamem Satz ein viergestrichenes Ais
vorgeschrieben ist, als Manko auffiel. Ob es ein gutes oder nur mittelmäßiges Instrument war, vermag ich nicht mehr zu sagen, denn da ich mit seinem Klang
aufwuchs und ihn vermutlich noch vor meiner Geburt kennen lernte, war er mir so vertraut, so eins mit mir wie der Klang der eigenen Stimme oder Sprache.
In den frühen siebziger Jahren nahm ich einen Super-8-mm-Kurzfilm auf, in dem ich die vielerlei Möglichkeiten einer neuen Filmausrüstung meines Vaters ausprobierte, und
wählte als Titel und Thema »Das Klavier«. Dieser (noch erhaltene) Film macht unser altes Kasseler Scheel-Klavier zum Hauptdarsteller. Im Verlauf der nur wenige Minuten
dauernden Spielzeit wird das Instrument gleichsam von Geisterhand auseinander genommen, wie ein Christbaum mit Lametta und bunten Kugeln, ja selbst einem Reh
auf den Tasten geschmückt und dann wieder zusammengesetzt. Zum Schluss sah man den dreibeinigen lederbezogenen Klavierhocker vor dem Instrument stehen, der Sitz
wirbelte herunter, und dann saß ich selbst urplötzlich darauf, um einen kräftigen Schlussakkord anzuschlagen. Es war reine Spielerei, nur dem privaten Vergnügen
zugedacht, kein Film mit der Ambition, »Kunst« zu sein.
Auch dieses Klavier hatte den Krieg miterlebt und war nicht ganz ungeschoren davongekommen. Als nämlich 1945 die amerikanischen Soldaten das hessische Land
in Besitz nahmen, rückten sie auch in Treysa und der Bahnhofsgaststätte meines Großvaters ein. Nun stand das Klavier zwar in einem der hinteren, privaten Zimmer,
doch auch diese wurden, wie alle anderen Räume, nach Brauchbarem, nach Waffen, Alkohol, Andenken oder was auch immer durchsucht. Die Soldaten, vermutlich
betrunken, randalierten, genossen ihre Macht und feierten ausgelassen ihren Sieg, und auf dem Höhepunkt des Geschehens erklomm einer das Klavier und trampelte mit den
Schuhen auf den Tasten herum. Mein Großvater, ein hagerer, eher schwächlicher Mann, der gewöhnlich zurückhaltend, selbstbeherrscht und friedfertig war, nie trank,
gleichwohl gelegentlich zum Jähzorn neigte, geriet bei diesem Anblick so außer sich, dass er den Mann am Kragen packte, schüttelte, mit seinen Augen erstach und
hinauswarf. Die Meute war eingeschüchtert und zog ab. Zum Glück blieb der Vorfall, der schlimm hätte ausgehen können, ohne Nachspiel.
Von meiner Mutter lernte ich, noch ohne Noten zu kennen, Klavier spielen, und spätestens im Alter von sechs Jahren konnte ich Schumanns »Fröhlichen Landmann«
so gut nach dem Gehör wiedergeben, dass ich einmal den »alten Noll«, einen Steinmetz aus der Nachbarschaft, dessen Grabstein-Werkstatt in der Alten Postgasse ich
zeitweise täglich besuchte, in unsere Wohnung holte und ihm das Stückchen zum Besten gab. Ich hörte als Kind viel Radio, war beglückt, die Melodie des
»Gemeinsamen Wegs«, einer sonntäglichen Sendung über die Heimatvertriebenen, wiederzuerkennen, schnappte manches auf und amüsierte die Kundschaft des Friseurs
mit meiner Gesangsdarbietung von Vico Torrianis Schlager »Bravo, bravo, beinah’ wie Caruso« – da ich mich schämte, versteckt aus einem Winkel des Ladens heraus.
Verständnislos lauschte ich den täglich verlesenen endlosen Namenlisten der Vermisstensuche, hörte auch, ohne es noch zu wissen, erstmals elektronische Musik in
Form jenes Pausenzeichens von Hermann Heiß, das seit dem 1. Mai 1955 vom Hessischen Rundfunk, unserem Haussender, ausgestrahlt wurde.
Noten lernte ich erst in Sinsheim an der Elsenz (ab 1955), wo ich dann, gleich meiner Schwester, regelmäßig Klavierstunden bei einer älteren Dame namens Tautz erhielt,
die ihren Mann im Krieg verloren hatte, vielleicht schon im Ersten Weltkrieg. Ihre Einrichtung wirkte auf uns Kinder sehr altmodisch und düster, denn überall gab es nur
dunkle verschnörkelte Möbel, Spitzendeckchen und Vitrinen. Sie war indes freundlich und alles andere als streng, und geduldig erklärte sie mir die verschiedenen Dauern der
Notenwerte durch die Vorstellung einer Tafel Schokolade, die man in zwei Hälften, vier Viertel, acht Achtel und so weiter zerbricht. Als Unterrichtsbuch diente uns damals
die Klavierschule von Gustav Damm, die ich heute noch aufbewahre.
Auch wenn meine Mutter immer weniger spielte, setzte sie sich in den Mannheimer Jahren noch gelegentlich eine Stunde ans Klavier und nahm sich ein Notenheft vor
oder spielte auch auswendig. Insbesondere sind mir Schuberts »Impromptus« und »Moments Musicaux« in Erinnerung, unter diesen wiederum das in As-Dur notierte,
aber in As-Moll beginnende Impromptu aus op. 90. Dieses war eines ihrer Lieblingsstücke, und bis heute kann ich das Stück nicht spielen oder hören, ohne an sie
und die letzten Mannheimer Jahre denken zu müssen, in denen sich die Wolken über unserer Familie immer bedrohlicher zusammenzogen, in denen die Spannungen und
Aggressionen ins Unerträgliche wuchsen und die Scheidung meiner Eltern anstand, wäre nicht meine Mutter erkrankt und schließlich qualvoll gestorben. Von diesen
Erfahrungen kann ich mich nicht mehr lösen, und wenn ich auch diese späten Werke Schuberts mit als das Schönste empfinde, was es an Musik überhaupt gibt, so möchte
ich sie dieser Erinnerungen wegen nicht selbst spielen, denn es würde die Vergangenheit zu lebendig und mich unweigerlich zu traurig machen.
Sehe ich die Noten meiner Mutter systematisch durch, teilen sie sich deutlich in zwei Hälften: eine Hälfte mit sogenannter ernster und eine Hälfte mit zur Unterhaltung
bestimmter Musik. Die »ernste« Musik besteht zumeist aus den üblichen Klassikerausgaben, die bei Peters, Breitkopf oder Schott erschienen waren; das
zwanzigste Jahrhundert ist durch Max Reger, Armin Knab, Joseph Haas und Gustav Adolf Schlemm vertreten. Zwischen ernster und unterhaltender Musik neigen die
ebenfalls vertretene Salon- und Operettenmusik, die Potpourris und Arrangements einmal der einen, einmal der anderen Richtung zu. Mengenmäßig kommt die zweite
Hälfte der ersten fast gleich. Sehenswert sind die farbigen Illustrationen auf den Umschlägen letzterer Noten, oft gekonnte, mit geübter Hand hingeworfene
Plakatkunst, die etwas vom Stil dieser Epoche festhält und nichts als gute Laune, Vergnügen, Sanges- und Tanzeslust versprühen möchte. Häufig handelt es sich um
Sammelalben, die in vielbändigen Reihen vereint waren. Ihre Titel lauten etwa: »Film- und Tanzmusik«, »Lachende Musik«, »Musik für dich (Die neuesten Tonfilm- und
Tanzschlager)«, »Zum 5 Uhr-Tee«, »Musik zum Tanz«. Tanzende Paare sind da zumeist auch zu sehen, feine, befrackte Herren mit Nelke im Knopfloch, in deren
Armen sich vornehme junge Damen in wallenden, tief ausgeschnittenen Abendkleidern wiegen. Man meint, ihr süßes Parfum zu riechen. Eine Welt, eine unverbrüchlich heile,
luxuriöse Welt, in die sich des Bahnhofswirts sein Töchterlein Irmgard, der »kesse Käfer«, wie ein Parteibonze sie einmal vor versammelter Mannschaft beschämte, ungehindert am Klavier einträumen durfte.
Der Alltag sah wahrscheinlich anders aus, auch wenn ich dies zum Teil nur aus Sekundärquellen erschließen kann. Sicher weiß ich, dass meine Mutter dem
»Bund Deutscher Mädel«, dem »BDM«, der Pflichtorganisation aller vierzehn- bis achtzehnjährigen Mädchen, angehörte; zuvor war sie altersgemäß vermutlich schon
Mitglied des »Bundes Deutscher Jungmädel« gewesen, in dem Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren organisiert waren. Der Wechsel von der einen zur anderen
Gruppierung müsste 1939 für sie stattgefunden haben. Ihr Vermerk »Übung mit 2 Keulen« in einem Heft mit Kindertänzen lässt auf die Art gymnastischer Schulung
schließen, die seinerzeit in großem Stil gepflegt wurde. Seit 1937 wurden alle Schüler zu Sammlungen herangezogen, die vorrangig der Wiederverwertung von Rohstoffen
dienten. Zunächst waren es Kastanien, dann Altpapier, Altmetall und schließlich Knochen, die man zur Gewinnung tierischer Fette und zur Herstellung von Seife
benötigte. Im Schuljahr 1938/39 sammelte jeder Schüler Treysas im Durchschnitt fast achtzehn Kilogramm Knochen, womit man sich an die Spitze des Bezirkes setzte.
Noch zwei Dokumente in der Handschrift meiner Mutter besitze ich, beide stammen aus ihrem letzten halben Lebensjahr, wobei das zweite, unmittelbar vor ihrem
Aufenthalt im Krankenhaus geschrieben, die zu erledigenden Einkäufe von Lebensmitteln für die kommenden Tage und die Verhaltensmaßregeln für meine
Schwester und mich in der Zeit ihrer bevorstehenden Abwesenheit gibt. Das erste, etwas frühere Dokument ist ein in der Mitte gefaltetes Stückchen grauer Karton, nicht
ganz so groß wie eine Postkarte, auf dem mit rotem Kugelschreiber geschrieben steht: »Opus 3 – Richard Strauß – Gut!« Sie hatte die Musik, die »Fünf kleinen Stücke für
Klavier«, damals im Radio gehört; die Musik hatte ihr gefallen, und in dem Wunsch, sie mir zu empfehlen, hatte sie die Notiz schnell angelegt. Ich kenne die Stücke bis heute
nicht und werde auch nicht versuchen, sie kennenzulernen, denn sie würden mich, ähnlich den Schubertschen Werken, von denen ich früher sprach, immer wieder neu
und ob ich es wollte oder nicht in die Mannheimer Vergangenheit zurückholen.
Von den Noten meiner Mutter machte ich von früh an regen Gebrauch, wenn es bei manchen Ausgaben auch nur bei einem bewundernd kopfschüttelnden
Durchblättern blieb wie im Falle des ersten Bandes der Beethoven-Sonaten oder besonders des zweiten Bandes von Bachs »Wohltemperiertem Klaviers« (beide
ergänzenden Hälften erwarb ich erst später), denn mir war unvorstellbar, wie man etwas so Schweres je lernen und spielen könne. Es war noch jenseits meines
Fassungsvermögens. Einen guten Schritt weiter war ich gekommen, als im Radio Elly Ney, deren Name ich oft hatte nennen hören, Beethovens Es-Dur-Sonate op. 7 spielte
und ich plötzlich die Noten ohne größere Schwierigkeiten mitlesen konnte.
Erst im Mitlesen, welches von nun an das Hören immer häufiger begleitete, erschloss sich mir vieles an kompositorischen Zusammenhängen, und mein Sinn für die
interpretatorische Eigenheit der Musiker wurde zugleich geweckt. Für die Tanz- und Operettennoten und alle andere unterhaltende Musik interessierte ich mich in meiner
Jugend fast gar nicht, und das einzige Stück dieser Art, das ich eine Zeitlang spielte, war Kurt Noacks »Heinzelmännchens Wachparade«. Als ich meiner Lehrerin Doris
Rothmund, die von recht impulsivem Temperament war, davon erzählte, malten sich unverzüglich Entsetzen und höchste Besorgnis auf ihrem Gesicht, und sie machte mir
lange Vorhaltungen, wie verpönt gerade dieses Stück am Konservatorium sei, dass es ja fast schon zu den fürchterlichen »Schlagern« gehöre und Musik dieser Art überhaupt
den Anschlag verdürbe. Ich übertreibe nicht.
Die Musikbücher meiner Eltern benutzte ich erst, als ich mich im jugendlichen Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren heftig für Gustav Mahler begeisterte, ständig
die Programm-Zeitschriften nach kommenden Rundfunksendungen seiner Werke durchsah, immer wieder die Partituren aus dem Mannheimer Dalberghaus, in dem die
Städtische Musikbücherei untergebracht war, entlieh und später auch regelmäßig Klassenkameraden und -kameradinnen mit in die dortigen Abhörkabinen schleppte,
um sie am Erlebnis dieser wunderbar leidenschaftlichen Musik teilhaben zu lassen. Als wir nach Stuttgart umzogen, setzte ich diese Tradition des „Missionierens“ im dortigen
Wilhelms-Palais fort. Auch meinen Vater drängte ich, nicht ohne Erfolg, zum Hören von Mahlers Werken, wobei auch er gerne eine Partitur zum Mitlesen gebrauchte;
später begleitete er mich gelegentlich gar zu Mahler-Konzerten in die Stuttgarter Liederhalle.
Diese Musik enthüllte alles, was ich damals empfand. Die Zweite Symphonie erschütterte mich so sehr, dass ich eine Zeitlang ernstlich erwog, unser schweres
Tonbandgerät irgendwie auf dem Gepäckträger meines Fahrrads zu meiner Mutter ins Krankenhaus zu transportieren, damit auch sie diese Musik kennen lerne. Da in den
Schluss-Chören jedoch so deutlich vom Sterben und von der Auferstehung die Rede war und sich dieses inmitten all der unbarmherzigen Lügen, Verharmlosungen und
Beschönigungen als ein versteckter Hinweis auf die wahre Natur ihres Leidens und ihren nahenden Tod hätte deuten lassen, ließ ich den Plan widerstrebend fallen. Ich
las alles über Mahler, was mir in die Hände kam, und so konsultierte ich auch die Bücher meiner Eltern. Wie groß war aber mein Erstaunen, etwa in Otto Schumanns
»Geschichte der deutschen Musik« (1940) Sätze wie diesen zu lesen: »Wie Mendelssohns glatte Süßlichkeit undeutsch ist, so müssen wir Mahlers überspitzte
Geistreichelei als fremd ablehnen. Erschütternd, aber auch abstoßend, wenn sich Einfühlungswille in deutsches Volkstum, jüdische Spitzfindigkeiten und vorderasiatische
Besessenheit gerade in der echt deutschen Form der großen Sinfonie zu verwirklichen und zu verbinden streben.« Ähnlich Abschätziges fand ich in Müller-Blattaus
»Geschichte der deutschen Musik« (1938). Eine artfremde Presse habe ihn sehr zu Unrecht verhimmelt, doch eine kurze Zeit der Besinnung habe genügt, nun sei sein
Schaffen in die Vergessenheit versunken. Ich ließ mich aber nicht beirren und schwärmte weiter für Mahler, denn es erschien mir völlig abwegig, einen Komponisten
nicht nach der klingenden Musik, sondern nach seiner vermeintlichen Rassereinheit zu beurteilen, und zu deutlich waren hier nicht jüdische, sondern deutsche Spitzfindigkeiten
und nicht vorderasiatische, sondern abermals deutsche Besessenheit federführend.
Viertes Kapitel Schaukeln und Hopsen
Als ich vier oder fünf Jahre alt war, gehörte ein altes mechanisches Grammophon, das inzwischen von seinen elektrischen Nachfolgern abgelöst und daher ausrangiert war, zu
meinen wertvollsten Besitztümern. Ein Federwerk, wie es sich heute noch als Antrieb in manchen einfachen Kinderspielzeugen findet, war mit einer kleinen Handkurbel vor
jeder Benutzung aufzuziehen. Schallplatten gab es auch einige, und sie wurden im Deckel des Gerätes verwahrt. Ein Metalldöschen enthielt Nadeln zum Abspielen und
Auswechseln. »Die Mühle im Schwarzwald« war meine Lieblingsplatte. Irgendwann, wie nicht anders zu erwarten, ging der Apparat kaputt, und da niemand das Gerät
reparierte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Platte, die sich nun nicht mehr selbsttätig drehte, fortan mit meinem Finger auf ihrem Teller anzutreiben, wenn ich
etwas hören wollte. Natürlich klang das nicht mehr so schön wie früher, doch waren die Melodien und die Musik als solche immerhin erkennbar, und das Ding bereitete mir noch manche Freude.
Eines Tages jedoch war mein Grammophon verschwunden. Ich weiß nicht mehr, ob und wie man mir sein Verschwinden erklärte und ob ich gegebenenfalls die Gründe
einsah. Doch als ich später einen Teil seines schwarzen Gehäuses unter vielerlei demontierten Elektrogeräten wiederentdeckte, dämmerte mir, dass meine Eltern es mir
vielleicht absichtlich weggenommen hatten. Mag sein, dass sie »Die Mühle im Schwarzwald« in meiner handbetriebenen, jaulenden und eiernden Fassung einfach
nicht mehr hören mochten, mag sein, dass sie sich von einem wie immer gearteten pädagogischen Drang in ihrem Tun leiten ließen. Ich weiß es nicht, war aber damals
noch zu jung, die Zusammenhänge zu verstehen, zu jung, um nicht enttäuscht zu sein.
Doch ein ähnlicher Vorfall war dem geschilderten vorausgegangen, und auch hier wurde mir erst viele Jahre später klar, was sich eigentlich zugetragen hatte. Ich besaß
nämlich ein Schaukelhähnchen, ein aus Holz gefertigtes, bunt lackiertes Spielzeug mit runden Kufen und zwei Griffen am Kopf, auf dem ich sitzen und mich hin und her
wiegen konnte. Man kennt das von den verbreiteteren Schaukelpferden. Und auch dieses Schaukelhähnchen war eines Tages nicht mehr da gewesen. Bald darauf jedoch,
der Verlust war fast schon vergessen, entdeckte ich auf unserem Hühnerhof zwischen den Klötzen und zerkleinerten Balken des Brennholzes ein zersägtes Brett, das ich auf
Grund seiner Bemalung fraglos als zu meinem alten Schaukelhähnchen gehörig erkannte.
Heute wäre es mir natürlich ein Leichtes, von missverstandener Erziehung und verfehlten Maßnahmen, von Blindheit für die Bedürfnisse eines Kindes oder kurz von
Grausamkeit zu sprechen. Doch was und wem nützt das noch? Ohne mich allzu sehr in die Untiefen psychologischer Deutungen zu begeben, sehe ich jedoch eine Verbindung
zwischen dem zuletzt Geschilderten und dem Beginn einer motorischen Auffälligkeit in meinem Verhalten, die sich fortan über meine gesamte Jugend erstreckte und erst im
Erwachsenenalter sich legte und die, da sie ganz unmittelbar mit Musik zu tun hatte, der eigentliche Grund ist, diese für manchen Leser vielleicht schon lächerlichen
Begebenheiten hier überhaupt zur Sprache zu bringen.
Ich entwickelte nämlich die Angewohnheit, immer dann, wenn ich Musik hörte und mich unbeobachtet glaubte, im Sitzen meinen Körper vor- und zurückzuwiegen, man
könnte auch sagen hin- und herzuschaukeln, die Hände neben den Knien beiderseits auf die Sesselkante gestützt. »Hopsen« nannte man das etwas boshaft in unserer
Familie, denn weder meinen Eltern noch meiner Schwester konnte dieses ungewöhnliche Verhalten, das alles um mich herum ausschloss, auf Dauer
verborgen bleiben; und da sie offensichtlich nicht damit umzugehen wussten, äußerten sie sich etwas abfällig darüber und stichelten. Doch ich gab nicht auf, vorerst jedenfalls
nicht, auch wenn mir selbst das Ganze mit zunehmendem Alter merkwürdig genug erschien und ich darauf achtete, wirklich alleine zu sein, sobald ich diesem fast schon autoerotischen Vergnügen nachging.
Da ich überaus gerne Musik hörte, hopste ich auch gerne. Zunächst wohl zu allem, was an Musik aus dem Radio drang; später verfeinerte sich mein Geschmack. Ich hopste
ebenso zu Beethoven und Schubert, Liszt und Schumann, Tschaikowsky, Mussorgskij und Rimskij-Korsakow, wie zu Brahms und Bruckner, Dukas und Debussy, um nur
einige meiner Lieblinge zu nennen. Was für wunderschöne Musik das alles war! Welch ein Zauber, den ich nur mit geschlossenen Augen ganz in mich aufnehmen konnte.
Dazu still zu sitzen, überstieg meine Kräfte. Ich musste mich bewegen, sitzend tanzen, tanzend sitzen, eins sein mit dem Atem der Musik, dem Puls der Klänge. Vielleicht
wollte ich zugleich auch etwas nachholen von dem, was mir an Schaukelei auf meinem Holzhähnchen entgangen war. Wem hätte ich das alles erklären sollen, da es mir selbst
ja nicht bewusst und schon gar nicht in Worte fassbar war? Am besten hopste sich jedenfalls in einem riesigen Ledersessel, der aus dem Besitz der Itals stammte und ein
Abschiedsgeschenk der „Hermann Göring Werke“ war, in dessen Direktorium einer dieser Verwandten zeitweilig gearbeitet hatte. Doch hatte der Sessel in mir seinen
Meister gefunden, und über die Jahre hin strapazierte ich das dunkelhäutige Monster so hartnäckig, dass schließlich die Federung zu erneuern und das abgewetzte Leder durch einen Stoffbezug zu ersetzen waren.
Selbst heute noch, nachdem sich diese »schlechte Angewohnheit« des Hopsens, dieses »Laster«, wie man mich glauben machen wollte, längst verloren hat und nur in der
Erinnerung noch lebt, kostet es mich Überwindung, darüber zu sprechen, und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen ist; vielleicht
beides. Von solch persönlichen, belastenden Erfahrungen zu berichten, über die man lange aus Scham geschwiegen hat, teils weil sie für andere zu nichtig sein mögen, teils
weil sie Anlass zu Spott und Häme sein könnten, ist immer schwierig. Gleichwohl ist oder war Verschwiegenheit und Verdrängung dessen, was uns in der Kindheit
begegnete, ja oft nur eine Form des Schutzes, der hindern soll, zu vormaligen Verletzungen und Demütigungen neue hinzutreten zu lassen. Der Zustand der
Abhängigkeit, der Wehrlosigkeit und des Ausgeliefertseins erlaubt dem Kind, will es nicht trotzen und rebellieren, oft nur den Rückzug auf sich selbst, die Wendung nach
innen, und schnell erliegt es dem Wahn, Klein- und Jungsein bedeute etwas Minderwertiges, möglichst bald zu Überwindendes. Daher bedarf es so notwendig
der Liebe, um nicht der eigentlichen Lust am Leben verlustig zu gehen, der Anerkennung und des Verständnisses für seine Eigenheit und für sein Alter.
Doch da die meisten Menschen durchaus vergleichbare Erfahrungen gemacht haben dürften und dieses Kapitel nicht allzu ernst oder mit zu allgemeinen Betrachtungen
ausklingen soll, sei noch eines anderen musikalischen Einflusses meiner Kinderzeit gedacht, wenngleich er nur von kürzerer Dauer war. Der Musikclown Grock hatte
nämlich, nachdem ich ihn im Alter von acht oder neun Jahren einmal im Fernsehen gesehen hatte, mein ganzes Herz erobert, und seine Späße verwunderten und erfreuten
mich in großem, ja unvorstellbarem Maße. Offenbar hatte er eine Sprache entwickelt, die auch Kinder sofort verstanden, eine Sprache, die nicht oder kaum der Worte
bedurfte – sei es, dass er den immer wieder sich lösenden Sitz seines Klavierstuhls mit Spucke klebte, dass ihm die Klappe beim Klavierspiel auf die Hände fiel, er einen
Geigenbogen nur hinter einem Vorhang halb verborgen, nie jedoch direkt vor dem Publikum in die Luft werfen und wieder auffangen konnte oder er seine Geige verkehrt
herum hielt und sich über den Verbleib der Saiten wunderte. Alle diese und andere Späße ahmte ich nach, soweit es mit meinen einfachen Mitteln möglich war,
gelegentlich zum leichten Entsetzen meines kleinen Publikums, das auf dergleichen Scherze nicht vorbereitet war und zunächst ein Missgeschick vermutete, wenn mir die
Klavierklappe plötzlich auf die Hände schlug oder ich mich durch meinen Sitz, den ich nach Entfernung des Polsters mit einem Tuch abgedeckt hatte, plumpsen ließ. Dass ich
mich beim nächsten Karneval als Grock schminkte und verkleidete, verstand sich von selbst. Wie es der Zufall wollte, begegneten wir Grock, der damals schon ein betagter
Herr war und sich bereits von der Bühne verabschiedet hatte, einmal im wirklichen Leben, denn wir sahen auf irgendeiner Reise ein vornehmes Auto langsam an uns
vorüberfahren, auf dessen Rücksitz wir den populären Clown erkannten. Wir winkten, und er beugte sich ans Fenster, um besser sehen zu können, und winkte freundlich zurück. Ich war wie aus dem Häuschen.
(Deinstedt, hauptsächlich 2001–2008)
[1] Im Haupttext ist zunächst angegeben, in welcher Reihenfolge ich die Quellen,
Inserate und Besprechungen auffand; später nahm ich jedoch eine chronologische Anordnung in folgender kleinen Tabelle vor, da diese mir für die Aufgaben dienlicher erschien:
1. Konzert: am 29. November 1922 a) Quelle: Schierse-Konzertführer (3. Jg. [1922], Nr. 11 und 12)
b) Besprechung: „Berliner Tageblatt“ vom 2. Dez. 1922
2. Konzert: am 5. März 1928
c) Quelle: zwei gleiche Inserate am 26. Februar und 4. März 1928
(siehe unter den Daten, oben, und „Berliner Tageblatt“)
d) Besprechung: „Berliner Börsen-Zeitung“ vom 11. März 1928 e) Besprechung: „Berliner Tageblatt“ vom 23. März 1928
Die Quelle der Besprechung von 1922 lautete: „Führer durch die Konzertsäle Berlins. BERLINER KONZERT-ZEITUNG“, Konzertplan vom 20. November bis 3.
Dezember 1922, hg. von G. Schierse, 3. Jg., Nr. 11, S. 7 [2 S. auf 1 Scan], Sp. [7]; und S. 8 unter der Überschrift: „Konzertdirektion Hermann Wolff & Jules Sachs G. m.
b. H.“: „Gerta Ital singt am 29. November im Bechsteinsaal Lieder von Brahms, Korngold, Richard Strauß. Prof. G e o r g S c h u m a n n begleitet am Flügel.“ Auf
der vorangehenden Seite benannte eine Tabelle unter dem Mittwoch, dem 29. November [1922], S. 7, Sp. [7]: „7½ U[hr]: Liederabend | Gerta Ital | A[m] Fl[ügel]:
Prof[essor] Georg | Schumann“. In dem folgenden Heft (3. Jg., Nr. 12) steht eine aktualisierte Tabelle auf Seite 4 in der vierten Zeile. – (Die Seitenzählung der Hefte ist
in dem Scan nicht immer eindeutig, da eine handschriftliche Nummerierung eintragen wurde, die infolge von Doppelseiten auf 1 Scanseite nicht mit dem Druck übereinstimmt.)
Erste Eingabe ins Internet: Montag, 9. Juni 2003
Letzte Änderung: Donnerstag, 24. November 2016
© 2003–2019 by Herbert Henck
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