Beethoven und die Winkelspinne

 

Beethoven und die Winkelspinne

 

 

von
 

Herbert Henck

 

 

Als ich vor kurzem in einem Musiklexikon etwas suchte, das mit meinen Forschungen zusammenhing und hier nicht weiter von Belang ist, nahm ich, als ich das Lexikon zurück an seinen Platz stellte, beiläufig ein anderes Nachschlagewerk zur Hand, welches ich vor mehreren Jahren für wenig Geld antiquarisch erworben hatte. Ich hatte es seinerzeit nur im Hinblick auf einige der mich gerade beschäftigenden Fragen gekauft und durchgesehen, seitdem aber nur noch selten benutzt. Es nannte sich Musik-ABC, Universal-Lexikon für Musikfreunde und Rundfunkhörer, war von Erwin Schwarz-Reiflingen geschrieben und 1938 in Stuttgart verlegt.

Dies alles ist nicht weiter bemerkenswert, doch, ohne recht zu wissen warum, griff ich nun zu eben diesem bald siebzigjährigen Buch. Ich begann darin zu blättern, erblickte etliche Fotografien von mehr oder weniger bekannten Musikern und sprang von einer zur anderen der immer wieder eingeschalteten Kunstdrucktafeln, um alle Bilder zu betrachten. Hierbei entdeckte ich durch Zufall mehrere Dinge, die ein früherer Besitzer oder Benutzer zwischen die Seiten des Bandes gelegt hatte, sei es als Lesezeichen oder weil das Eingelegte einen thematischen Bezug zu dem hatte, was in dem Lexikon behandelt war. Auch ein sauber beschriftetes Grußkärtchen zur Weihnacht 1944, das mit dem Foto eines Christrosenstraußes geschmückt war, kam zum Vorschein, so dass dieses Lexikon einst ein Geschenk gewesen sein mag.

Da ich neugierig wurde, was sich vielleicht noch alles ohne mein Wissen zwischen den Seiten verberge und von mir zuvor übersehen war, begann ich das Buch gründlicher zu untersuchen und stieß neben anderem alsbald auf einen kleinen vergilbten Zeitungsausschnitt in Fraktur, der eine kurze Geschichte aus Beethovens Bonner Zeit erzählte. Ich las sie mit wachsender Teilnahme. Die Episode gab mir zu denken und wird andere vielleicht ähnlich berühren wie mich, weshalb ich sie hier ohne Kommentar und so, wie ich sie vorfand, wiedergebe.

Wo der Artikel, der keine Überschrift mehr trug, erschienen war oder wie sein Verfasser hieß, war nirgends zu erkennen, doch als ich den Ausschnitt wendete, sah ich auf der Rückseite den oberen Teil einer von schwarzen Balken gesäumten Danksagung, die „Weltenschwann, den 21. Februar 1942“ überschrieben war. Darunter war ein Eisernes Kreuz mit einem Hakenkreuz in seiner Mitte abgebildet, und so wird die Anzeige bald nach den Trauerfeierlichkeiten für einen im Krieg gefallenen Soldaten erschienen sein. Dem Bericht über Beethoven somit auf immer verbunden, stand sie wohl in einer im württembergischen Calw oder seiner Umgebung gedruckten Zeitung, denn Weltenschwann liegt nur wenige Kilometer entfernt von Calw, der Geburtsstadt Hermann Hesses.

Der Artikel, der mir auf die beschriebene Weise, die natürlich nichts zur Sache tut, in die Hände geriet, soll folgen. Anmerken möchte ich einzig noch, dass ich von dem, was hier berichtet wird, nie zuvor gehört oder gelesen hatte und mir daher über die Richtigkeit des Mitgeteilten kein Urteil zusteht.

„Der junge Beethoven, welcher schon in seinem achten Jahr durch Violinspielen die Zuhörer in Erstaunen setzte, übte sich gewöhnlich einsam in einem kleinen Dachstübchen. Doch nicht ganz einsam, denn das Stübchen beherbergte zugleich auch eine ungemein große Winkelspinne. Der Knabe bemerkte, daß sobald er zu spielen anfing, die Spinne ihr Gewebe verließ und ihm näherkam, und zwar zu jeder Zeit. Nach und nach wurden Spieler und Zuhörer so vertraut, daß diese von ihrem Winkel auf das Pult, vom Pult auf den Künstler, und endlich auf den Arm kam, der den Bogen führte. Der Anteil, den der Knabe hiervon nahm, trug nicht wenig zu seinem Fleiße, und mithin zu seinen Fortschritten bei, da ihn seine Eltern zum Tonkünstler bestimmt hatten. Eines Tages kam seine Muhme, die Mutterstelle bei ihm vertrat, und führte jemanden in das Stübchen, um des jungen Spielers Anlage zur Tonkunst zu beurteilen. Er spielte, die Spinne bleibt nicht aus und geht endlich bis auf seinen Arm. Da fährt die Muhme plötzlich in die Höhe, schleudert die Spinne mit dem Pantoffel auf den Boden und zertritt sie in demselben Augenblick. Vor Schrecken fiel der junge Mensch in Ohnmacht. Sein Lehrer Lemière in Paris bezeugt die Wahrheit dieser Geschichte.“

Februar 2007
 

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Erst lange nach Abschluss vorstehender Erzählung wurde mir bekannt, dass nicht der junge Beethoven hier beschrieben wurde, sondern eine Verwechslung mit dem seinerzeit berühmten Geiger Isidore Berth(e)aume (1752–1802) stattgefunden hatte. Der Irrtum wurde in folgendem Buch genannt, das auch weitere Belege anführt: Peter Joseph Schneider, System einer medizinischen Musik. Ein unentbehrliches Handbuch für Medizin=Beflissene, Vorsteher der Irren=Heilanstalten, praktische Aerzte und unmusikalische Lehrer verschiedener Disciplinen, Erster Theil: Musik und Poesie, Bonn: gedruckt bei Carl Georgi, 1835, Drittes Kapitel: Von der Wirkung der Tonkunst auf die Thiere, hier S. 83–85.

Da in folgendem Nachschlagewerk Lemières Tod auf « 1771 » datiert wurde (« le maître du célèbre violinist Bertheaume »), kann Lemière nicht einen Bericht über Beethoven (1770–1827) beglaubigt haben. Siehe F[rançois-]J[oseph] Fétis, Biographie universelle des musiciens [etc.], Deuxième Édition, Tome Cinquième [Bd. 5], LA-MY, Paris: Librairie de Firmin Didot Fréres, Fils et Cie, 1867, Seite 265, linke Spalte, Artikel LEMIÈRE [ohne Vorname(n)].

Da ich die Geschichte aber unter Beethovens Namen erfahren hatte und der zitierte Zeitungsartikel nur in dieser Form verständlich ist, beließ ich den Text, wie er war.


November 2012

 

Erste Eingabe ins Internet:  Montag,  6. Februar 2007
Letzte Änderung:  Samstag,  23. April 2016

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