Im Schatten des Genius
Darmstädter Tagebuch 1974 mit einem Exkurs nach la Ste. Baume
Teil 2
von
Herbert Henck
Teil 1: 21.–30. VII. 1974 Teil 2: 31.VII. –7. VIII. 1974
11. Tag, Mittwoch, 31. VII. 1974
Nach dem Frühstück Analyse des Klavierstücks IX von Stockhausen zur Post gebracht und nach Freiburg an Günther Schnitzler abgesandt. Den ganzen Tag über gut gelaunt.
Handschuhe für Stockhausens Klavierstück X in einem Kaufhaus in der Innenstadt erworben. Vivier geübt. Längere Zeit mit Monique und Doris gesprochen.
In Kontarskys Klavierseminar trägt Petrescu Boulez’ dritte Sonate (Trope) vor und analysiert einzelne Teile. Sehr lustig, ein Original. Er wird mir sympathisch. Und wie
verzweifelt, als er um 13 Uhr enden muss! Er spielt jetzt ganz vorzüglich und macht sehr ausdrucksvolle Kopf- und Handbewegungen beim Spielen; beim Sprechen wirkt er aber immer noch etwas tolpatschig und laut
und setzt sich über manches holterdipolter hinweg. Kaum hat er einen Abschnitt beendet (auf Englisch oder Französisch), wendet er sich ruckartig zu Kontarsky um, zeigt mit dem Finger auf ihn und befiehlt: »Auf
Deutsch!«
Ab 15 Uhr Programmbesprechung mit Rolf Gehlhaar, Verteilung der Stücke auf die Teilnehmer. Abends Globokar, der eigene Stücke vorstellt und einen Text abliest, in dem
sogar die berüchtigte »Konsumgesellschaft« vorkommt.
Anschließend versuche ich, Dagmar das Vorwort zu Cages Winter Music und Water Music zu übersetzen, und wir bemühen uns, die Spielanweisungen zu verstehen. Es gelingt
nicht völlig. Dagmar, die sich bei Globokars Vortrag plötzlich wieder umgesetzt hatte (direkt vor Globokars Nase) und sich dann ständig an Knien und Hals rieb, scheint jedenfalls dankbar für die Erklärungen,
und manchmal lacht sie sogar.
12. Tag, Donnerstag, 1. VIII. 1974
Glücklicher Tag, nicht anders zu nennen. So ausgelastet wie bisher noch nie mit Organisation und Proben und abends der Stockhausen-Analyse über Klavierstück X,
von der mir anschließend eine Hörerin sagt, sie sei das Beste gewesen, was sie bisher in Darmstadt gehört habe.
Christoph Delz kommt an. Nach dem Frühstück Vivier geübt, dann Klavier-Seminar Kontarsky mit Stockhausens Klavierstücken VII und VIII. Von Serocki Klavierstück A piacere und Besprechung von Cages Winter und Water Music.
Probe von Kubisch angehört.
Dann Probe mit Claude und Christoph. Unser Spiel ist viel souveräner geworden, musikalischer, gestenreicher, artikulierter, dramaturgisch schlüssiger. Wir freuen uns.
Nach kurzem Schlaf weitere Vivier-Probe mit den Streichern, doch wir spielen schlechter als vorher.
In der Aula Vorbereitung meiner Stockhausen-Analyse: Dia-Einstellung, Lichtregelung, Tafelbeschriftung, Flügelaufstellung, Auslegung der Partitur usw. Erfreulich großes Interesse an
meinem Vortrag; in der Pause und anschließend tausend Detailfragen.
Meine Rolle als Assistent gefällt mir sehr. Ich habe guten Kontakt zu den Teilnehmern und höre viele Meinungen über Personen, Stücke und Aufführungen.
13. Tag, Freitag, 2. VIII. 1974
Wieder sehr, sehr viel Organisation. Für Marc Monnets Stück haben wir jetzt alle sechs Pianisten zusammen: Füsser, Bösser, Thomsen, de Castro, Walker, Appenheimer. Abends kommt Monnet
und will, dass Dagmar nicht mitspielt, sie sei zu schlecht. Nun weiß ich nicht, ob dies nicht nur ein Vorurteil ist, da er Dagmar schon von Anfang an nicht dabeihaben wollte, ich aber nicht einsah, dass nicht auch
schwächere Interpreten mitwirken, sofern sie wirklich Lust dazu haben und einsatzfreudig sind. Ich will mir erst eine Probe anhören, um mir ein Bild zu machen. Kontarsky ist ständig bei Proben, und alles hängt
an mir, was die Pianisten betrifft. Ich tue alles, um niemanden zu enttäuschen, und nun Dagmar zu sagen, sie sei zu schlecht für das Stück, fiele mir sehr schwer. Sie fühlt sich ohnehin ständig zurückgesetzt.
Vielleicht setzt sie sich deshalb selbst immer nach vorn, damit alle sie sehen, und hustet, damit alle sie hören müssen.
Um 10 Uhr Generalprobe von Désintégration, nachmittags Probenplanung, abends die Vivier-Aufführung als erstes Stück des ersten Studiokonzerts. Ich finde, eine sehr
musikalische Aufführung, gemessen an den vorausgegangenen Proben und der Kölner Wiedergabe. Viele Buh-Rufe am Ende, doch gehört das hier eher zum guten Ton und hat oft persönliche oder selbst nationale
Motive, entspringt aber auch manchmal einer Schulklassen-Mentalität, in die uns die Gebäude, in denen wir arbeiten, zurückzuversetzen scheint.
Eindrucksvolle, stellenweise aber etwas kitschige Uraufführung von Fernando Grillos Itesi, dann Région III von Hans Ulrich Lehmann und die etwas vage Solipse von
Gehlhaar, gut und gelassen gespielt von Siegfried Palm.
14. Tag, Sonnabend, der 3. VIII. 1974
Ein geruhsamerer Tag.
Vormittags mit Rosin Probe des Adamčiak-Stückes Mitspiel, später erste Matinee für Klavier mit der vorzüglichen Wiedergabe von Trope aus der dritten Boulez-Sonate
durch Petrescu (preisverdächtig).
Das Stück von Euteneuer muss gestrichen werden, da die Kubisch, die hier Flöte spielen sollte, abreist. Am späten Nachmittag wieder Konferenz mit Rolf, der letzte Stücke zur
Einstudierung mitbringt. Das Programm vom dritten und vierten Studiokonzert sowie das einer Matinee wird geplant; danach Probeneinteilung.
Péter Eötvös erklärt Dagmar Spiral – Gott und ihm sei Dank.
Abends Konzert mit dem Ives-Trio (sehr gut, Klavier und Cello aber oft zu leise), dann das Madrigal 3 von Pousseur.
Walter Maas ist in Begleitung aus Holland gekommen.
Boudouin-Michel, ein (belgischer?) Komponist, fällt durch finstere Blicke auf und ist sehr unzufrieden, dass sein Stück für präpariertes Klavier nicht in einem Studiokonzert kommen
soll. Was kann man tun?
15. Tag, Sonntag, 4. VIII. 1974
Unwahrscheinlich müde nach dem Abendkonzert, da tagsüber Proben, Üben, Matinee; vierzehn Stunden ohne Pause.
Schlechtes Stockhausen-Konzert mit unpräziser Mikrophonie I, eine belanglose Pole-Aufführung und dann, nicht so übel, aber viel zu lange: Ceylon. Darin gleichwohl
viele aparte Momente. Doch stelle ich mir vor, ein Ceylonese schriebe ein Stück Helgoland mit Schiffssirenen und Inselklängen … Hier lebt die Musik doch allzu viel vom Kolorit der exotischen
Instrumente, und Stockhausen als alterfahrener Kandy-Trommler wirkt nur attitüdenhaft.
Proben für Adamčiak mit dem verärgerten Rosin, denn zwei Spieler fehlen unentschuldigt. Silsbee-Probe mit etwas unsicherer Komponistin, Zaidel-Probe mit Caskel und Palm lehrreich.
Kursmüdigkeit greift Platz, ich bin froh, wenn ich endlich ein paar Tage ausspannen kann.
16. Tag, Montag, 5. VIII. 1974
Wieder sehr hektisch und anstrengend. Am Stück von Jeanne Zaidel geübt, das Programm für den vierten Studioabend zusammengesucht (Namen in korrekter Schreibweise, Besetzungen,
Jahreszahlen usw.).
Der Komponist Gábor Litván, der erst Rolf (»täglich fünfmal«) belagerte, hat nun seine Aktivität auf mich übertragen, und als eines seiner Stücke nicht besetzt werden kann,
schwankt er zwischen Tränen des Kummers und der Wut. Im Gespräch fängt er immer wieder heftig zu atmen an und bringt erst nach einer Weile erregte Worte zustande. Nun wird er morgen ein Stück für zwei Klaviere
mitbringen, und wir werden sehen, ob es bis zu einer Matinee am kommenden Donnerstag zu erlernen ist (mit Yoma).
Nachmittags Programm-Planung für Mittwoch und Donnerstag, anschließend bei Generalprobe, während der ich das Adamčiak-Material einrichte.
Mittags soll ein »linkes« Pamphlet gegen Stockhausen verteilt worden sein, das ich aber nicht zu sehen bekam.
Abends Konzert mit Stücken des jungen von Schweinitz, Singleton, Gillian Bibby. Von Moya Henderson eine kleine Szene: Aus vier großen Lautsprecherkästen schneiden sich vier Spieler mit
Scheren langsam heraus, nachdem sie zunächst nur ihre Instrumente und einige Accessoirs herausgeschoben hatten; dann laufen sie auf allen Vieren mit den Scheren zu dem Kontrabassisten in der Mitte (Grillo), der bis
dahin ständig selbstverliebt tätig war, fassen ihn am Hosenbund, die Scheren schwingend – das Licht erlischt. Dann, sehr hübsch, Cages Suite for Toy Piano.
17. Tag, Dienstag, 6. VIII. 1974
Ereignisreicher Tag, wieder voller Aktivität, von der Programm-Zusammenstellung bis zum Umblättern bei der Uraufführung von Wolfgang Rihms Klavierstück Nr. 4, bei der mir
Petrescu im Eifer des Gefechts fast die Brille von der Nase reißt. Übrigens ein sehr klares, durchgearbeitetes, detailreiches Stück, das Wolfgangs große Überlegenheit zeigt. Aus ihm muss eines Tages ein ganz bedeutender Komponist werden; ich meine, er hat Genie. So ein Klavierstück mit 22 Jahren zu schreiben, das ist phantastisch schön!
Uraufführung eines hervorragenden Klaviertrios des 17-jährigen Müller-Siemens mit einem traumhaften Ende – quasi tonaler F-Dur-Satz mit kurzen Pralltrillern, eine große Begabung
mit viel Klangsinn. Auch sehr vielversprechend das Streichquartett von Hans-Jürgen von Bose. Vor all diesen jungen Komponisten aus den Endfünfzigern komme ich mir schon recht alt vor.
Probe am Zaidel-Stück, das jetzt viel besser läuft.
Heftige Auseinandersetzung mit Litván, der heute ein Stück für zwei Klaviere mitbringt. Nach dem Durchspielen aber finde ich es zu schwer für eine Einstudierung innerhalb von zwei
Tagen. Er hält das für einen Affront gegen das Stück und mehr noch gegen sich, fühlt sich benachteiligt und ist verletzt, bittet so eindringlich, dass ich mit Yoma eine Probe mache. Nein, es geht wirklich nicht,
man kann so etwas nicht aus dem Boden stampfen, die Zeit ist zu knapp. Das Stück selbst steht in der Bartók-Nachfolge, ist in seinem sechs- bis achtstimmigen Satz aber so kompliziert, dass man mindestens eine
Woche bräuchte. Auch ist die Notation so miserabel, dass man den Text oft nur mit Mühe entziffern kann (zumal auf der schlechten Photokopie).
Generalproben teilweise angehört, am späten Nachmittag Adamčiak-Probe mit Caskel und Rosin, um 8 Uhr früh Silsbee-Probe mit erstem Durchlauf, der der Komponistin zu gefallen
scheint. Sie ist sehr freundlich, manchmal etwas hilflos, ja verlegen, aber der angenehme Eindruck überwiegt.
18. Tag, Mittwoch, 7. VIII. 1974
Vorletzter Kurstag, Matinee mit sieben Stücken, wobei ich in drei Uraufführungen mitspiele (Zaidel, Silsbee, Adamčiak). Morgens Proben, nach kurzer Mittagsruhe Schlussbesprechung mit
Gaby, Kontarsky, Caskel, Palm, Rolf und Carl Dahlhaus. Anregungen, Ärger, Vorschläge, Verbesserungen usw. werden vorgebracht und diskutiert oder von Palm zumindest notiert.
Höre kurz vom Rücktritt Nixons aus dem Nebenzimmer, wo ein Fernsehapparat sehr laut läuft.
Beim Abendessen wird viel über den Ausschluss einiger Teilnehmer aus Stockhausens Seminar gesprochen, den er wegen allzu zudringlicher politischer Fragen verfügt haben soll. Stockhausen
hat ohnehin ein ziemlich geringes Ansehen (Mikrophonie, Ceylon und Pole fielen sozusagen durch), wenngleich man sein großes Können allgemein anerkennt. Selbst an den Wänden der Toiletten
lässt man seiner Wut bereits die Zügel schießen, und sein Name steht dort geschrieben mit den SS-Runen als Initiale. Abends während Herbstmusik befiehlt er plötzlich wieder seinen Mitspielern für alle
hörbar: »Leiser!« – »Leiser!« – »Ritardando!«, alles mit ungeduldiger, herrischer Miene, die keinen Widerspruch verträgt.
Als die Duschen in Aktion treten, die den »Regen« abbilden sollen, spannt ein Zuhörer einen Schirm auf, und als das Wasser abgestellt wird, schließt und öffnet er den Schirm mehrmals
schnell, als schüttele er ihn aus.
Im zweiten Teil sitze ich bei den Indianerliedern neben Radulescu, der ununterbrochen vor sich hinbrummt, ständig von »merde« spricht und lautstark in die Pausen rülpst.
[…]
Liste der vollständigen Eigennamen
Christoph = Christoph Delz (Schweizer Komponist und Pianist) Claude = Claude Vivier (kanadischer Komponist) Dagmar = Dagmar Bösser (deutsche Blockflötenspielerin)
Doris = Doris Thomsen (deutsche Pianistin) Gaby = Gaby Schumacher (deutsche Cellistin) Gillian = Gillian Bibby (neuseeländische Komponistin)
Kevin = Kevin Volans (südafrikanischer Komponist und Pianist) Kontarsky = Aloys Kontarsky (deutscher Pianist) Mesias = Mesias Maiguashca (ecuadorianischer Komponist)
Monique = Monique Copper (niederländische Pianistin) Moya = Moya Henderson (australische Komponistin) Péter = Péter Eötvös (ungarischer Komponist, Pianist und Dirigent)
Rolf = Rolf Gehlhaar (deutsch-amerikanischer Komponist) Wolfgang = Wolfgang Rihm (deutscher Komponist) Yoma = Yoma Appenheimer (chilenische Pianistin)
Nachbemerkung
Einige Anmerkungen zu den vorstehend wiedergegebenen Tagebuch-Aufzeichnungen scheinen mir angebracht.
Insbesondere möchte ich einige Angaben zu Stockhausens Alphabet für Liège ergänzen, die die Geschehnisse verständlicher machen. In diesem 1972 entstandenen Werk versuchte
Stockhausen, alle möglichen Wirkungen von Schallschwingungen in einem szenisch-musikalischen Gesamtwerk zu vereinen, beeinflusst unter anderem von den Lehren des islamischen Mystikers Hazrat Inayat Khan wie von
Theorien aus der anthroposophischen Bewegung, wie sie vor allem in Hans Jennys Büchern über Kymatik (Wellenlehre) nachlesbar sind. Stockhausen beschrieb das Konzept des Stückes im vierten Band seiner gesammelten
Texte (1978), wo auch mehrere Photographien zu finden sind, die anlässlich der Uraufführung in Liège (1972) entstanden.
Mir sollte nach Stockhausens Wunsch ursprünglich nur die Aufgabe zufallen, die Wirkung von Schallwellen auf Flüssigkeiten darzustellen. Außer dem Verweis auf Jennys Bücher gab es
zunächst keine genaueren Instruktionen, doch konnte mir Stockhausen den physikalischen Effekt, um den es ging, während eines Besuches in seinem Kürtener Haus demonstrieren: Wurde nämlich ein im Abfluss der
dortigen Küchenspüle eingebauter »Müllwolf«, der Küchenabfälle zerkleinerte und der Kanalisation zuführte, eingeschaltet, geriet in der Spüle stehendes Wasser durch die Vibrationen des starken Elektromotors
in Schwingungen, und Muster kamen zustande, die denen in Jennys Büchern glichen.
Ich belas mich in vielerlei physikalischen Lehrbüchern und begann alsbald mit praktischen Versuchen. Ohne hier alle Fehlschläge und Vorstufen beschreiben oder mich
in technische Einzelheiten verlieren zu wollen, sah das Resultat folgendermaßen aus: Unter vier rechteckigen, mit Wasser gefüllten Metallschalen befestigte ich kleine Lautsprecher, die von einem
Synthesizer erzeugte Töne als mechanische Schwingungen auf die Wannenböden übertrugen und in den Flüssigkeiten die Wellenmuster hervorriefen. Um die Wellen einem Publikum besser sichtbar zu machen,
entwickelte ich ein einfaches Projektions-System: Schräg postierte Scheinwerfer leuchteten in die Wannen, auf dem Boden der Wannen angebrachte Spiegel reflektierten dieses Licht zusammen mit den Wellenmustern, und
Lupen fokussierten und vergrößerten letztere auf die Wände des Raumes oder spezielle Projektionsflächen.
Auf Anregung des britischen Musikers Hugh Davies erweiterte ich meine Aufgaben dahingehend, dass ich mir in einer Schlosserei ein »Flammenrohr« bauen ließ, das ebenfalls die
Schwingungen von Tönen sichtbar machen konnte. Es bestand aus drei langen, von Propangas durchströmten Eisenrohren, in die in engem Abstand kleine Löcher gebohrt waren. Aus ihnen konnte das Gas ausströmen, und
entzündete man es, entstanden drei Reihen bläulicher Flämmchen. Stellte man nun seitlich einen Lautsprecher auf, der Schwingungen abstrahlte – am besten Sinustöne –, folgten die Flämmchen den
Wellen der Luftschwingungen. Beim Steigen der Töne zogen sich die Wellen zusammen oder wurden bei ihrem Sinken breiter, was sich besonders bei langsamen Glissandi gut beobachten ließ. Aber auch sehr rasche Wechsel
der Tonhöhen bildeten sich unverzüglich ab, sofern sie ein bestimmtes Register nicht verließen, und gelegentlich brachte der starke Luftdruck aus dem Lautsprecher die Flämmchen gar zum Erlöschen.
Noch ein drittes System baute ich, wobei ich wieder von der Versuchsanordnung eines Physik-Schulbuchs ausging. Ein kleiner Spiegel wurde auf der Membran eines Lautsprechers befestigt, und
ein auf den Spiegel geworfener Lichtstrahl nahm bei seiner Reflexion die Schwingungen der Lautsprechermembran auf. Der reflektierte Strahl wurde auf einen langsam rotierenden Spiegelwürfel gelenkt, der durch seine
Drehung die Schwingungen aus der Vertikalen in die Horizontale auseinander zog und im abgedunkelten Raum als wellenförmige Lichtlinie an den Wänden erscheinen ließ. Wie bei den Flämmchen verbreiterten oder
verengten sich die Wellen, sobald die Töne aus dem Lautsprecher stiegen oder fielen.
So schön die beschriebenen Einrichtungen aber auch imstande waren, die Wellennatur von Tönen sichtbar zu machen, so schwerfällig erwiesen sie sich in ihrer musikalischen
Handhabung. Versuchte ich, nur Musik zu machen, blieben die optischen Effekte aus oder traten nur ausnahmsweise in Erscheinung. Stellte ich dagegen die sichtbare Seite in den Vordergrund, lähmte die Apparatur
meine Bewegungsfreiheit in musikalischer Hinsicht. Ohr und Auge lagen in ständigem Streit und behinderten sich wechselseitig, und es hätte eines immensen zeitlichen und materiellen Aufwandes bedurft, das Gerät zu
einer wirklich musikalisch-künstlerischen Betätigung zu verfeinern. Lange liegende, langsam steigende oder fallende Töne mit sich unmerklich wandelnden Klangfarben erschienen mir noch als der beste Kompromiss,
doch kann ich nicht behaupten, mit dem, was als Musik entstand, je selbst zufrieden gewesen zu sein.
Den anderen Spielern des Alphabets erging es freilich oft nicht besser, und da die Aufführung in la Ste. Baume nach der ersten in Liège (1972) und einer weiteren
in La Rochelle (1973) nun schon die dritte war, konnten diese Beschränkungen durch das verwendete Instrumentarium auch Stockhausen nicht entgangen sein.
Zum Schluss noch einige Anmerkungen ganz anderer Art.
Dagmar Bössers Suche nach einem Sitzplatz unmittelbar vor dem Vortragenden und ihr häufiger Platzwechsel fand später eine plausible Erklärung in ihrer Schwerhörigkeit.
Sie starb in Bremen von Mörderhand.
Auch Claude Vivier wurde Opfer eines Mörders und starb 1983 im Alter von 35 Jahren in Paris.
Christoph Delz erlag 1993 dreiundvierzigjährig seiner Erkrankung an AIDS.
Darmstadt, 21. Juli – 7. August 1974 Deinstedt, 20.–25. April 2000
Erste Eingabe ins Internet: Dienstag, 25. April 2000
Letzte Änderung: Montag, 2. Mai 2016
© 2000–2019 by Herbert Henck
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